Der Amokläufer
Rennen, Herr Baron, nicht wahr?« antwortete er mit devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, daß heute ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, wo die ganze gute Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam,dachte ich mir, während ich in den Wagen stieg, wie wäre es noch vor ein paar Jahren möglich gewesen, daß ich einen solchen Tag versäumt oder vergessen hätte! Wieder spürte ich, so wie ein Kranker bei einer Bewegung seine Wunde, an dieser Vergeßlichkeit die ganze Starre der Gleichgültigkeit, der ich verfallen war.
Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das Rennen mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle Auffahrt der Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten mit knatternden Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis her. Der Kutscher wandte sich am Bock und fragte, ob er scharf traben solle; aber ich hieß ihn, die Pferde ruhig gehen zu lassen, denn mir lag nichts an einem Zuspätkommen. Ich hatte zu viel Rennen gesehen und zu oft die Menschen bei ihnen, als daß mir ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, und es entsprach besser meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des Wagens die blaue Lust wie Meer vom Bord eines Schiffes lindrauschend zu fühlen und ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume anzusehen, die manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar Blütenflocken zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und wirbelte, ehe er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig, sich so wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen, ohne jede Anstrengung beschwingt und fortgetragen sich zu empfinden: eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter wiegen zu lassen von dem weichen, frühsommerlichen Tag.Aber es war schon zu spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. Ein dumpfes Brausen schlug mir entgegen. Wie ein Meer scholl es dumpf und hohl hinter den aufgestuften Tribünen, ohne daß ich die bewegte Menge sah, von der dieses geballte Geräusch ausging, und unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn man von der niederen Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade emporsteigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift über die weite grauschäumige Fläche mit ihren donnernden Wellen. Ein Rennen mußte gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem Rasen, auf dem jetzt wohl die Pferde hinflitzten, stand ein farbiger dröhnender, wie von einem inneren Sturm hin und her geschüttelter Qualm, die Menge der Zuschauer und Spieler. Ich konnte die Bahn nicht sehen, spürte aber im Reflex der gesteigerten Erregung jede sportliche Phase. Die Reiter mußten längst gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten, Schreie los und aufgeregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte ich die Biegung, an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen Rasenoval angelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer zusammengefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das ganze Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus diesem einen ausgespannten Hals grölte und gurgelte mit tausenden zerriebenen Einzellauten eineimmer höher gischtende Brandung. Und diese Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum bis zum gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir stand auf einem Sessel ein Mann, elegant gekleidet, mit einem sonst wohl guten Gesicht, jetzt aber tobte er, von einem unsichtbaren Dämon beteufelt, er fuchtelte mit dem Stock in die leere Luft hinein, als peitschte er etwas vorwärts, sein ganzer Körper machte – unsagbar lächerlich für einen Zuschauer – die Bewegung des Raschreitens leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln wippte er mit den Fersen unablässig auf und nieder über dem Sessel, die rechte Hand jagte den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die linke knüllte
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