Der andere Tod
Kanäle auf Empfang gestellt.
Ich war ziellos in der Gegend herumgefahren. Vielleicht hatte ich geglaubt, Anouk finden zu können. Vergeblich.
Im Haus traf ich auf eine verzweifelte Frau Meerbaum, die gerade dabei war, ihre innere Unruhe durch Staubsaugen zu bekämpfen. Sie begrüßte mich atemlos: »Herr Winther, Ihr Handy war ja aus, da ham die hier ang’rufen.«
»Wer? Die Polizei?«
Frau Meerbaum schluckte. Sie sah mich mit glasigem Blick an. Ihre Stimme zitterte, als sie fortfuhr: »Man hat den Wagen g’funden.«
Ich musste mich setzen.
»Im Bregenzer Wald. Auf dem Parkplatz bei der Rappenlochschlucht. Aber sie war nicht drin.«
Ich spürte, wie ich mitsamt dem Stuhl schwankte und mich an der Lehne abstützen musste. Was redete sie da? Ich war in einen schrecklichen Film geraten, in dem die Szenen wild durcheinander purzelten.
»Der Wagen stand da, mit offener Fahrertür, das Lichtwar auch noch an. Die Polizei hat die Schlucht abg’sucht. Aber sie ham niemand g’funden.« Die Meerbäumin hatte mich am Arm gepackt und redete auf mich ein, hastig und schnell, und ihre Worte drangen wie von fern in mein Bewusstsein.
Ich hörte mich stammeln: »Aber … wo … um Gottes willen … ist sie?«
»Sie muss hier g’wesen sein, heut’ Nacht. Denn auf ’m Vitrinenschrankerl liegt a Umschlag, a Brief für Sie, Herr Winther. Der hat gestern noch net dort g’legen. Ich mach’ mir solchene Vorwürf’, dass ich net do blieb’n bin und g’wartet hab’.«
Wie in Zeitlupe erhob ich mich, holte tief Luft und griff nach dem Umschlag. Sogleich ertastete ich etwas Hartes, das ich nicht einordnen konnte, und fragte: »Fehlt etwas von ihren Sachen?«
Dann, plötzlich von Eile getrieben, rannte ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf ins Schlafzimmer, um Anouks Kleiderschrank zu durchsuchen. Die Meerbäumin war mir hinterhergelaufen und stammelte, ebenfalls nach Luft ringend: »Ich hab’ noch nicht nachg’sehen.«
Gemeinsam gingen wir Anouks Sachen durch. Wühlten uns durch weiße Kostüme, rote Tops, Designerjeans. Am Ende schüttelte die Meerbäumin nur traurig den Kopf. »Nix, es fehlt nix. Ich kenn’ ja die ganze Garderobe von der gnädigen Frau.«
Ich überlegte einen Moment lang. Im Grunde wollte ich nicht von dieser Person sprechen, aber im Moment durfte man keine Möglichkeit auslassen: »Frau Meerbaum, was glauben Sie – hat Anouk vielleicht mit Frau Hinteregger gesprochen?«
Frau Meerbaums Lippen schlossen sich in Sekundenschnelle zu einem schmalen Strich. Als sie antwortete,klang ihre Stimme gepresst und vorwurfsvoll.
» Die
wär sicher die Letzte – und des mein’ ich auch und insbesondere im übertrag’nen Sinn –, der Ihre Anouk was sag’n tät’, nach allem …«
Frau Meerbaum sah mich nicht an. Doch ich wusste, dass der Vorwurf auch mir galt.
Ich nickte.
Dann wandte ich mich ab und ging mit dem Brief ins Arbeitszimmer. Eine Weile lang saß ich einfach so da, den Umschlag in der Hand. Durchs Fenster fiel graues Regenlicht herein und vermischte sich mit den Schatten in den Zimmerecken. Anouks Schriftbild erschien weder fahrig noch schwach, es sah aus wie immer, elegant und klar.
Ich las: »Für dich.«
Meine Hände bebten. Ich hatte Angst. Angst vor dem, was ich gleich lesen würde. Ungestüm riss ich den Umschlag auf und zog den Brief heraus. Dabei fiel ein kleines Bündel auf meinen Schoß. Ein fester Gegenstand war in weißes Seidenpapier eingeschlagen. Rasch wickelte ich ihn aus. Es war Anouks Kette mit dem roten Tropfen.
Mit zitternden Fingern klappte ich den Briefbogen auf und las:
Mein Liebster,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich schon fort. Aber glaube mir, es ist das Beste für uns alle. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, denn ich weiß jetzt, dass Barbara mich angelogen hat, dass du – mein Geliebter – mir treu warst.
Ich bin aus einem anderen Grund gegangen. Es ist der Schrecken darüber, was ich angerichtet habe. Über das Ausmaß, das mein Lügengebilde angenommen hat. Ich habe ein Netz aus Lügen um uns alle gewoben – um dich und mich und alle anderenMenschen, die mit uns Kontakt haben. Ich will es nun zerschneiden und dir die Wahrheit, die ganze Wahrheit, sagen.
Und diese Wahrheit führt mich ohne Umschweife zum Anfang zurück. Was ich dir jetzt mitteilen werde, ist so ungeheuerlich, dass ich es nicht von Angesicht zu Angesicht tun kann. Dazu fehlt mir der Mut. Und deshalb schreibe ich es dir aus der Entfernung, die mir
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