Der andere Tod
Unwissenheit vor.
An einem Tag, an dem ein dürftiger Regen an die Fensterscheibe tickt, bringt Anouk einen Schuhkarton voller Fotos mit in die Klinik. Sie hat ihn sich von zu Hause schicken lassen.
Ich sehe Menschen, die mir fremd sind und von denen ich glaube, sie nie zuvor gesehen zu haben: mein Vater, der nicht mehr lebt, unsere besten Freunde Barbara und Karl.
Barbara ist eine auffallend schöne Person, die ihre Attraktivität wie eine Waffe vor sich herzutragen scheint. Karl sieht aus wie ein Mann, der seine Zeit auf dem Tennisplatz verbringt.
Fotos von ihren Eltern zeigt Anouk mir nicht.
Auf anderen Bildern sehe ich einen Mann mit braunem, leicht gelocktem Haar, gerader Nase und herausforderndem Blick. Sein Mund ist breit, die Lippen sind fein geschwungen, man könnte sie als sinnlich bezeichnen. Alles in allem ein Mann in seinen besten Jahren, der vielleicht etwas selbstgefällig wirkt. Und zu Übergewicht neigt. Anouk sagt, das bin ich.
Die Ärzte haben einige Fotos von mir digitalisiert und darauf Linien und Maße eingezeichnet. Dr. Nassr sagt, sie werden nun beginnen, die rechte Hälfte meines Gesichts, die bei dem Brand schwer verletzt wurde, wiederherzustellen.
Ich muss operiert werden, einmal, zweimal, mehrmals. Und vielleicht werde ich nach fünf Operationen, wenn sie ihre Skalpelle durch meine Haut geritzt, die Wangen mit Fleisch aus meiner Hüfte unterpolstert, einen Steg in den Knorpel meiner Nase implantiert und die Haut ausgetauscht haben, wieder sein wie früher. Aber
kann
ich das?
Am Tag vor der ersten Operation bitte ich Anouk, mir einen Spiegel zu bringen. Sie verlässt das Zimmer, kehrt nach einer Weile zurück und hält mir einen Handspiegel vor das Gesicht. Zuerst spüre ich nur, dass der Spiegel da ist, denn ich lasse meine Augen noch geschlossen. Langsam, ganz langsam öffne ich sie und starre auf das Abbild einer Mumie aus einem Horrorfilm. Auf einen lebenden Toten.
Ich mache
einen eigenen Raum
aus Luft und Atem
Da wohne ich
in meinem Untergang
und unterhalte mich
mit Fischen
ROSE AUSLÄNDER
Anouk
Meine Liebe zu Anouk war für mich wie ein kostbarer Schatz. Ein großes Glück war mir zuteil geworden, ohne dass ich etwas dazu getan hatte oder etwas dazu hätte tun können. In den Wochen und Monaten in der Klinik fragte ich mich ständig, ob ich schon früher unter diesem Gefühl gelitten hatte, sie nicht zu verdienen.
Ich beobachtete sie. Meine Augen folgten ihr durch die Löcher in meinem Verband und da ich den Kopf nicht wenden konnte, war es jedes Mal wie ein scharfer Schnitt, wenn sie aus meinem Gesichtskreis verschwand und ich nurmehr das Rascheln ihres Kleides oder ihre leisen Schritte hören konnte.
Wenn sie dann wieder eintauchte in die für mich sichtbare Welt, war das für mich ein Augenblick großer Erleichterung – der Moment, in dem ich ihr Lächeln wieder erblickte und mich davon überzeugte, dass sie mich noch nicht verlassen hatte. Der Gedanke daran war irrational, das wusste ich. Anouk hielt zu mir, sorgte sich hingebungsvoll um mich. Aber die dumpfe Angst, sie möglicherweise nie mehr sehen zu dürfen, ließ sich trotz allem nicht unterdrücken.
In diesen ersten Wochen, als eine Verletzung am Halswirbel mir nicht gestattete, den Kopf zu wenden, saßAnouk oft an meinem Bett und erzählte. Am meisten aber liebte ich es, wenn sie mir vorlas. Dann war sie ganz bei mir und ich konnte sie unentwegt betrachten, für die Länge eines ganzen Kapitels oder mehr. Ich sah ihr zu, wie ihre Lippen die Worte formten, wie das Licht auf ihrem Haar wanderte, bis es im Zimmer dämmrig wurde und sie die Nachttischlampe einschaltete. Oft blieb mein Blick auch an der hauchdünnen Kette an ihrem Hals hängen und an dem Tropfen aus rotem Stein, der im Sonnenlicht wie Lava glühte. Ein Geschenk von mir, wie sie sagte. Manchmal trug sie auch ein Armband, das aus winzigen roten Korallen bestand und sich perfekt um ihre schmalen, weißen Handgelenke legte.
Ich liebte Anouk und diese Liebe hatte etwas Verzweifeltes, so, als wüsste ich von vornherein, dass unser Zusammensein nur vorübergehend sein konnte. Die Minuten, die wir miteinander verbrachten, schienen gezählt zu sein. Draußen vor der Tür würden Abschied und Traurigkeit auf uns lauern. In meinen klareren und stärkeren Momenten führte ich dies auf unsere Lebenssituation zurück. Anouk kam, blieb eine Weile, manchmal eine Stunde, manchmal auch drei, und dann ging sie fort und ließ mich allein
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