Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
Großraumbüro, in dem die Schreibtische der Kommissare standen, studierte Glitsky noch einmal die Tafel, erfuhr dort aber nur, was ihm eh schon klar war: Jedes der sechs Mordkommandos war mit mindestens zwei Mordfällen mehr als beschäftigt. Er brauchte zusätzliches Personal, wusste aber angesichts der verschärften Budgetprobleme, dass er schon froh sein durfte, wenn ihm diese Schwachköpfe und Schleimer, die da oben am Hebel saßen, nicht noch mehr Leute abzogen.
Sein Gesichtsausdruck – starr, unbewegt, unterschwel lig drohend – war eigentlich stets derselbe. Treya, seine zweite Frau, hatte ihn vom ersten Tag an zu überreden versucht, seine Mimik doch etwas freundlicher zu gestalten. Vergebens. Seine Ausstrahlung war ihm schnurz. Bei der Arbeit hatte sich sein Gesichtsausdruck sogar als vorteilhaft erwiesen, selbst wenn kleine Kinder – sogar seine eigenen – manchmal verängstigt das Weite suchten. Für Glitsky ging das in Ordnung – und es konnte auch nicht schaden, wenn die Kinder ein bisschen Schiss vor dem Vater hatten. Seine buschigen, Intelligenz suggerierenden Augenbrauen verstärkten den Eindruck seiner durchdringenden blauen Augen nur noch. Wenn er seinen Gedanken nachhing oder unkontrolliert vor sich hin grummelte – was regelmäßig passierte –, schwoll die Narbe an seinen Lippen merklich an. Und so wie ihm seine Umwelt jedwede modische Eleganz absprach, so war sie auch in diesem Punkt einer Meinung: Nein, ein Schmusekätzchen war er weiß Gott nicht.
Es war schon am Dämmern, als sich Glitsky durch den Berufsverkehr zum Tatort vorgekämpft hatte. Was nicht bedeutete, dass er im Dunkeln stand: Das blitzende Rot- Blau-Licht der Streifenwagen, die Lampen in den Helmen der Feuerwehrleute, die reguläre Straßenbeleuchtung und die Scheinwerfer diverser TV -Übertragungswagen hatten dafür gesorgt, dass der Tatort wie ein Filmset ausgeleuchtet war.
In der Mitte der Baker Street, gleich hinter einem Löschzug, fand Glitsky einen Parkplatz. Als er aus seinem Wagen stieg, schlug ihm ein bitterkalter Wind ins Gesicht, der Rußpartikel des Feuers über die Straße trieb. Er zückte seine Dienstmarke und meldete sich bei dem Polizeibeamten, der für die Abriegelung des Tatorts zuständig war.
Ein Mann mit einem weißen Feuerwehrhelm, offensichtlich der Einsatzleiter, stand vor der Treppe zu einem dreistöckigen Haus im viktorianischen Stil und unterhielt sich mit einem anderen Mann in Zivil. Als Glitsky auf die beiden zuging, quietschten seine Schuhe im Wasser, das nach dem Löscheinsatz noch immer auf der Straße stand. Er hielt kurz an, um den Reißverschluss seiner dicken Lederjacke hochzuziehen, und sah, wie einige uniformierte Cops scheinbar gelangweilt an ihren Streifenwagen standen. Für einen Moment fühlte er sich ver sucht, ihnen persönlich nahezulegen, doch wieder in ihre Wagen zu steigen und Patrouille zu fahren – was schließlich ihre Aufgabe war. Aber er wusste nur zu gut, dass das nach hinten losgehen würde: mal wieder ein Kotzbrocken von Lieutenant, der sich tierisch ernst nimmt und meint, seine Leibeigenen nach Gusto malträtieren zu können.
Aber der Vorfall hatte immerhin eines ausgelöst: Glitsky kochte vor Wut. Es war Freitagabend, und er sollte längst zu Hause bei Frau und Kindern sein. Überstunden waren nicht das Problem – waren es nie gewe sen –, aber in diesem Fall hatte er sie den hirnverbrannten Bürokraten zu verdanken, die das Personal und Budget so eingedampft hatten, dass er nun selbst den Fall übernehmen musste. Natürlich hätte er einen seiner überarbeiteten Kollegen losschicken können, aber das war nicht das, was er unter Stil und Führungsqualitäten verstand.
Zwanzig Meter weiter hatte sich eine Menschentraube aus Neugierigen gebildet, die ein Interview verfolgten, das ein Mann einem Fernsehsender gab. Glitsky schaute hinauf zum Brandherd und konstatierte, dass das Feuer komplett gelöscht war. Die Feuerwehrleute hatten bereits ihre Schläuche aufgerollt und mit Aufräumarbeiten begonnen. Glitsky stolperte über Brandschutt und zersplit tertes Glas und erkannte beim Näherkommen, dass der Mann im weißen Helm Norm Shaklee war und sein Gesprächspartner Arnie Becker, der leitende Inspector der Brandursachenermittlung.
Glitsky schluckte seinen Ärger runter, machte gute Miene zum bösen Spiel und ging zu den beiden Männern, die ihn gut kannten und herzlich begrüßten.
»Sie schicken inzwischen also schon die Häuptlinge zur Spurensicherung«,
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