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Der Anruf kam nach Mitternacht

Der Anruf kam nach Mitternacht

Titel: Der Anruf kam nach Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Seit seiner Trennung von Lauren vor vier Jahren war Nick jeder engeren Beziehung mit einer Frau aus dem Wege gegangen, in sexueller wie sonstiger Hinsicht, und das merkte man ihm an. Er war reizbar geworden.
    »Hast du wieder etwas von Lauren gehört?«, fragte Tim.
    Nick sah mit einem finsteren Blick auf. »Ja. Vergangenen Monat. Sie erklärte mir, sie würde mich vermissen. Ich glaube, in Wirklichkeit vermisst sie nur das Diplomatenleben.«
    »Aha, sie hat dich also angerufen. Das klingt doch vielversprechend. Mir scheint, es bahnt sich eine Aussöhnung an.«
    »Ach, tatsächlich? Auf mich hat es eher gewirkt, als würde sich ihre letzte Liebschaft nicht wie geplant entwickeln.«
    »So oder so, es ist offensichtlich, dass ihr die Scheidung leidtut. Hast du dich wieder bei ihr gemeldet?«
    Nick schob die Reste seiner Mousse au Chocolat beiseite. »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Ich habe mich nicht danach gefühlt.«
    Tim lehnte sich zurück und lachte. »Du hast dich nicht danach gefühlt!« Er seufzte vor sich hin. »Vier Jahre stöhnt und jammert er über seine Scheidung, und jetzt sagt er mir das ins Gesicht!«
    »Hör mal, immer wenn sich etwas nicht nach Laurens Wünschen entwickelt, beschließt sie, den lieben, alten Nick, ihren stets gehorsamen Trottel, anzurufen. Das wird mir zu viel. Ich habe ihr erklärt, ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Weder ihr noch sonst jemandem.«
    Tim schüttelte den Kopf. »Du hast den Frauen abgeschworen. Das ist ein ganz schlechtes Zeichen.«
    »Daran ist noch niemand gestorben«, brummte Nick, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und stand auf. Im Augenblick interessierten ihn Frauen ohnehin nicht. Er hatte viel zu viel anderes im Kopf, und ganz sicher konnte er keine neue, unglückliche Liebesaffäre gebrauchen.
    Aber auf dem Rückweg unter den Kirschbäumen musste er wieder an Sarah Fontaine denken. Nicht an Sarah, die trauernde Witwe, sondern an Sarah, die Frau. Der Name passte zu ihr. Sarah mit den Bernsteinaugen.
    Schnell verdrängte Nick diese Gedanken. Von allen Frauen in Washington sollte sie die letzte sein, an die er dachte. Bei seiner Art von Tätigkeit war Objektivität der Schlüssel zum Erfolg. Ob er nun ein Visum ausstellte oder sich vor einem Magistrat über einen irgendwo in der Welt eingesperrten Amerikaner herumstritt, stets war es ein Fehler, sich dabei persönlich zu engagieren. Nein, für ihn war Sarah Fontaine nichts anderes als ein in Unterlagen verzeichneter Name.
    Und das würde auch so bleiben müssen.
    * * *
    Amsterdam
    Der alte Mann liebte Rosen. Er liebte den samtenen Duft der Blütenblätter, die er oft zupfte und zwischen seinen Fingern zerrieb. Sie waren so kühl, so wohlriechend, nicht wie diese faden Tulpen, die sein Gärtner an den Rändern des Ententeiches gesetzt hatte. Tulpen bestanden nur aus Farben, sie hatten keinen Charakter. Sie schossen in die Höhe, blühten und verwelkten gleich wieder. Aber die Rosen! Sie widerstanden selbst dem Winter, nackt und dornig, wie zornige alte Frauen, die sich vor der Kälte duckten.
    Er blieb zwischen den Rosensträuchern stehen, atmete tief ein und genoss den Geruch der feuchten Erde. In wenigen Wochen würden die Knospen aufbrechen. Wie seine Frau diesen Garten geliebt hätte! Er stellte sie sich vor, an genau dieser Stelle, wie sie die Rosen anlächelte. Sie hätte ihren alten Strohhut aufgehabt, ihre Schürze mit den vier Taschen getragen, und in der Hand hätte sie ihr Plastikkörbchen gehalten. »Meine Uniform, Frans«, hatte sie damals gesagt. »Ich bin wie ein alter Soldat, der den Kampf gegen die Schnecken und Käfer aufnimmt.« Er erinnerte sich, wie die Rosenschere gegen ihr Körbchen zu klappern pflegte, wenn sie die Treppen ihres alten Hauses herunterging – des Hauses, das er verlassen hatte. Nienke, meine süße Nienke, dachte er. Wie sehr ich dich vermisse!
    »Heute ist ein kalter Tag«, sagte eine Stimme auf Holländisch. Der Alte drehte sich um und sah dem jungen blonden Mann entgegen, der durch die Sträucher auf ihn zukam. »Kronen«, sagte er, »endlich bist du da.«
    »Es tut mir leid, meneer. Ich bin einen Tag zu spät, aber es ging nicht anders.« Kronen nahm seine Sonnenbrille ab und blinzelte gen Himmel. Wie immer vermied er auch diesmal, dem alten Mann direkt ins Gesicht zu sehen, es machte ihn stets aufs Neue verlegen. Schon seit fünf Jahren sah dem Alten niemand mehr voll in die Augen. Fünf Jahre, in denen es unmöglich gewesen war, jemandes Blick aufzufangen, ohne

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