Der Anruf kam nach Mitternacht
auf: Nick O’Hara. Ja, so hieß er. Und dann fiel ihr wieder sehr lebhaft ein, wie er mit den grauen Augen jede ihrer Gemütsbewegungen aufgenommen hatte. Ja, auch er hatte zugehört, aber schließlich war das seine Aufgabe. Sie wollte nicht mehr an ihn denken. Sie wollte nie mehr mit ihm zu tun haben.
Sarah zog die Plastikhaube über das Mikroskop. Sie überlegte, ob sie ihre Unterlagen mit zu sich nach Hause nehmen sollte. Doch als sie die offene Seite überflog, schienen ihr die Eintragungen symbolisch für ihre Lebensweise zu sein – sauber, ordentlich und genau innerhalb der vorgegebenen Grenzen.
Sie klappte das Buch zu und stellte es in das Regal zurück.
»Ich glaube, ich fahre nach Hause«, erklärte sie.
Abby nickte zustimmend. »Gut. Es hat keinen Sinn, wenn du dich hier vergräbst. Vergiss die Arbeit für eine Weile.«
»Bist du sicher, dass du mit der zusätzlichen Arbeit klarkommen wirst?«
»Natürlich.«
Sarah zog ihren Laborkittel aus und hängte ihn neben der Tür an den Haken. Wie alles andere in diesem Raum sah auch ihr Kittel viel zu sauber, viel zu ordentlich aus. »Vielleicht nehme ich mir nach dem Begräbnis eine Weile frei. Noch eine Woche, oder vielleicht sogar einen Monat.«
»Bleib nicht zu lange fort«, bat Abby. »Wir möchten dich wiederhaben.«
Sarah warf einen letzten Blick auf das Labor, um sicher zu sein, dass alles seine Ordnung hatte. Alles war in tadellosem Zustand. »Ich komme zurück«, versprach sie. »Ich weiß allerdings nicht, wann.«
3. KAPITEL
Der Duft von Blumen erfüllte die Luft. Auf dem Gras zu Sarahs Füßen lag ein Kranz aus Nelken, Gladiolen und Lilien. Den Rest ihres Lebens würde ihr dieser Geruch Übelkeit verursachen. Er würde ihr diesen Hügel und die Marmorsteine ins Gedächtnis zurückrufen, die aus dem kurz geschorenen Rasen und dem Dunst, der über dem Tal hing, herausragten. Mehr noch, er würde ihr stechenden Schmerz verursachen. Alles andere – die Ansprache des Priesters, den beruhigenden Druck, mit dem ihre liebe Freundin Abby ihren Arm hielt, selbst die ersten fallenden, kalten Regentropfen auf ihrem Gesicht – nahm sie kaum wahr. Neben dem tiefen Schmerz war alles andere belanglos.
Sarah zwang sich, nicht auf den Erdhaufen vor sich zu sehen, sondern starrte fest auf den dem Tal gegenüberliegenden Berg. Durch den Dunst konnte man einen schwachen rosafarbenen Schimmer wahrnehmen. Die Kirschbäume blühten. Aber der Anblick stimmte sie noch trauriger. Es war Frühling, und Geoffrey würde ihn nicht erleben.
Die Stimme des Priesters wurde leiser und leiser und ging in ein unangenehmes Brummen über. Der kalte Nieselregen stach Sarah auf die Wangen und ließ ihre Brillengläser beschlagen. Nebel stieg auf und entzog die Welt ihrem Blick.
Ein sanfter Stoß von Abby brachte Sarah wieder in die Realität zurück. Der Sarg war in die Erde gesenkt worden. Dies waren ihre Freunde, aber in ihrem Schmerz erkannte Sarah sie kaum. Selbst Abby war jetzt eine Fremde für sie.
Sarah bückte sich automatisch und nahm eine Hand voll Erde. Sie war feucht, schwer und roch nach Regen. Dann warf sie sie in das Grab. Das Gepolter auf dem Sarg ließ sie zusammenzucken.
Gesichter glitten an ihr vorbei, schemenhaft wie Geister. Ihre Freunde waren verständnisvoll. Sie sprachen mitfühlend mit ihr. Sarah stand alles mit trockenen Augen und einem Gefühl der Benommenheit durch. Der Duft der Blumen und der sie umgebende Dunst benebelten ihr die Sinne, und sie nahm nichts richtig wahr, bis sie sich dann irgendwann umsah und feststellte, dass alle anderen bereits gegangen waren. Nur sie und Abby standen noch am Grab.
»Es fängt an zu regnen«, sagte Abby.
Sarah sah zum Himmel und bemerkte, dass er von den Wolken wie mit einem kalten, bleifarbenen Tuch überzogen war. Abby legte ihren kräftigen Arm um Sarahs Schultern und drängte sie sanft in Richtung Parkplatz.
»Wir könnten jetzt beide eine Tasse Tee brauchen«, sagte Abby. Tee war ihr Allheilmittel. »Eine Tasse Tee, und dann können wir uns unterhalten.«
»Ja, das klingt gut«, stimmte Sarah zu.
Arm in Arm schlenderten sie langsam über den Rasen. »Ich weiß, du wirst es mir nicht glauben wollen«, sagte Abby, »aber der Schmerz geht vorbei, Sarah. Wirklich. Wir Frauen sind in dieser Hinsicht sehr stark. Wir müssen es sein.«
»Und wenn ich es nicht bin?«
»Du bist es. Zweifle nicht daran.«
Sarah schüttelte den Kopf. »Im Augenblick habe ich meine Zweifel an allem und jedem.«
»Aber mir
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