Der Anruf kam nach Mitternacht
konnte Kronen sie nicht erschießen. Für den Augenblick war sie noch sicher.
Sie rutschte langsam weiter über das Dach, bis sie im Morgendunst die Antenne vor sich aufragen sah. Sie hob den Kopf und blickte zur anderen Seite des Daches hinunter. Da war nichts als die Straße. Tränen liefen ihr über die Wangen, und ermattet lehnte sie die Stirn auf die Ziegel vor sich.
Plötzlich drang ihr ein Geräusch ins Bewusstsein, das sich näherte und ständig lauter wurde – eine Polizeisirene.
Auch Kronen hörte die Sirene. Mit einem wilden Blick sah er zu Sarah hoch. Wie besessen suchte er eine andere Aufstiegsmöglichkeit, doch es gab keine. Er musste ebenfalls an dem Kabel hochklettern.
Entsetzt beobachtete Sarah, wie er, behände wie ein Affe, zu ihr hoch hangelte. Dann krallte er sich mit den Fingern am Dachfirst fest und zog sich ganz hoch. Langsam robbte er auf sie zu.
In seinen Augen stand Mord. Seine Hand glitt in die Tasche, und er holte ein Messer heraus. Jetzt würde er sie nicht mehr schonen. Er wollte sie umbringen.
Seltsam war, dass Sarah alles so klar in sich aufnahm: wie der Morgen heraufdämmerte, wie Kronen sich duckte, sich zum Sprung bereit machte. Die Klinge schimmerte schwach im ersten Licht. Instinktiv kreuzte Sarah die Arme vor der Brust, eine Geste sinnloser Verteidigung. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als die Klinge in ihren Unterarm stieß. Sie rutschte von ihm weg.
Kronen gelang es, auf die Füße zu kommen. Drohend balancierte er über ihr und holte zum nächsten Stich aus. Mit dem Schuhabsatz trat er auf ihr Kleid. Sarah war wie festgenagelt, konnte nicht mehr weiter – war ihm hilflos ausgeliefert.
In letzter Verzweiflung bäumte sich ihr ganzer Lebenswille auf. Mit einem Aufschrei warf sie sich gegen seine Knie. Kronen schwankte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und kämpfte um seine Balance. Sie ließ es nicht dazu kommen. Sie stieß mit beiden Händen gegen seinen Fuß.
Der Stoß ließ Kronen nochmals stolpern. Er taumelte, suchte nach Halt. Das Messer entglitt seiner Hand und rutschte über die Ziegel. Er glitt aus. Im Fallen versuchte er, sich am Dachfirst festzuhalten. Sekundenlang trafen sich ihre Blicke. In seinen Augen stand so etwas wie unendliche Überraschung, als seine Finger abrutschten und er aus ihrer Sicht verschwand.
Sarah schloss die Augen. Noch lange nachdem Kronens Körper auf der Straße aufgeschlagen war, gellte ihr sein Schrei in den Ohren.
Ihr wurde schlecht. Die Welt schien sich um sie zu drehen. Sarah senkte den Kopf, presste ihre Wange an einen kalten, nassen Ziegel und versuchte, ihre Übelkeit zu überwinden. Zusammengekauert und zitternd hockte sie auf dem Dach und hörte die Sirenen sowie das Geschrei von der Straße. Sie fror und war viel zu erschöpft, um sich zu bewegen. Erst als sie Nick rufen hörte, bewegte sie den Kopf.
Das ist unmöglich, dachte sie. Ich bilde mir das ein. Er wurde doch vor meinen Augen erschossen …
Und doch, dort unten auf der Straße stand Nick und winkte heftig zu ihr hinauf. Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie wollte ihm zurufen, dass sie ihn liebe, dass sie ihn immer lieben würde, aber sie wurde so von Weinkrämpfen erschüttert, dass ihre Worte im Schluchzen untergingen.
»Beweg dich nicht!«, schrie Nick. »Wir rufen die Feuerwehr. Die holt dich herunter!«
Sarah wischte sich die Tränen ab und nickte. Endlich ist es vorbei, dachte sie und sah zu, wie drei weitere Polizeifahrzeuge mit heulenden Sirenen unten vorfuhren. Es ist alles vorbei …
Aber sie hatte nicht mit Magus gerechnet.
Ein lautes Klappern ließ sie herumfahren und nach unten sehen. Magus war durch eine Tür auf das unter ihr liegende Dach getreten. Er hielt ein Gewehr in der Hand. Nur Sarah konnte ihn sehen. Von der Stelle aus, wo Nick und die Polizei standen, war er nicht auszumachen. Einen Moment lang starrten Sarah und Magus sich an. Dann hob er langsam das Gewehr. Sie sah, wie er den Lauf auf sie richtete, und wartete auf den tödlichen Schuss.
Der Knall donnerte über die Dächer. Warum fühle ich nichts, dachte Sarah. Warum spüre ich keinen Schmerz …?
Voller Verwunderung nahm sie wahr, wie Magus rückwärts taumelte. Seine Brust war voller Blut. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand. Er schrie auf. Sein Todesschrei klang wie ein Name. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte er rücklings nach unten.
Ein Glitzern lenkte Sarah von dem Geschehen ab. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch den Morgendunst und fielen hell
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