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Der Archipel in Flammen

Titel: Der Archipel in Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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gegriffen.
    Zunächst trat solcher Notfall nicht ein. Sobald das Schiff vor Anker lag, war der Kapitän zwischen Vor- und Hintersteven mehrmals auf und ab geschritten, während seine Mannschaft sich, unbekümmert um die heranfahrenden Boote, mit der Ordnung des Segelwerks und der Säuberung des Decks zu tun machte. Bloß ein Umstand wäre einem aufmerksamen Auge nicht entgangen, daß nämlich die Segel nicht angeschlagen wurden, daß man sich also die Möglichkeit ließ, sie sofort wieder zu hissen und in See zu stechen.
    Das erste Boot kam an Backbord der Sakolewa und legte an. Die andern Boote waren fast gleichzeitig zur Stelle ... und da die Sakolewa sehr niedrige Wandungen hatte, war es den Angreifern ein leichtes, sich hinaufzuschwingen. Mit wildem Geschrei stürmten die Verwegensten nach dem Hinterschiff. Einer packte einen Feuerbrand und leuchtete dem Kapitän ins Gesicht.
    Mit raschem Griffe riß dieser die Kapuze auf die Schultern, so daß sein Gesicht in volles Licht trat.
    "Ei, ei!" rief er, "kennen die Leute von Vitylo denn den Landsmann Nikolas Starkos nicht mehr?"
    Mit diesen Worten hatte der Kapitän ruhig die Arme über seiner Brust gekreuzt. Im andern Augenblick waren die Boote abgestoßen, und im schnellsten Tempo nach dem Hafen zurückgesteuert.

Zweites Kapitel.
Auge in Auge.
    Zehn Minuten später stach ein leichtes Boot, eine Gig, von der Sakolewa ab und legte am Fuß der Mole an; dort ging, ohne alle Bedeckung, ohne jede Waffe, der Mann ans Land, vor dem die Leute von Vitylo soeben so schnell das Hasenpanier ergriffen hatten.
    Der Mann war der Kapitän der "Karysta" – diesen Namen führte das kleine Schiff, das eben in den Hafen eingelaufen war. Er war von Mittelgröße. Unter der dicken Seemannskappe zeigte sich eine hohe, stolze Stirn. Aus seinen kalten Augen fiel ein starrer, strenger Blick. Ueber seiner Lippe lief, wagerecht gespannt, in dickem Busche, nicht in Form einer Spitze endigend, der Klephten-Schnurrbart. Seine Brust war breit, seine Gliedmaßen verrieten gewaltige Kraft. Sein schwarzes Haar fiel in Locken auf die Schultern. Er mochte Mitte der Dreißiger sein; wenn er darüber hinaus war, so sicher nur um ein paar Monate; aber seine vom Seewinde gebräunte Haut, die Härte seines Gesichtsausdrucks, eine Falte in der Stirn, tief gegraben wie eine Ackerfurche, in der kein gutes Samenkorn keimen kann, ließen ihn älter erscheinen als er war.
    Das Gewand, das er zur Zeit trug, war weder die Jacke noch die Weste, noch die Fustanella der Palikaren. Sein Kaftan mit der braunen Kapuze und mit Säumen von ziemlich nüchterner Farbe besetzt, sein Beinkleid von grünlicher Färbung, das in weiten Falten bis auf die Schäfte der hohen Stiefel fiel, um dort zu verlaufen, erinnerten vielmehr an die Tracht des Seemanns von der Barbaresken-Küste. Und doch war Nikolas Starkos Grieche von Geburt und stammte direkt aus Vitylo. Dort hatte er seine Knaben- und Jünglingszeit verlebt; in diesem Klippenbereich hatte er das Seemannsgewerbe gelernt; in diesen Gewässern hatte er Stürmen und Strömungen getrotzt. Keine Bucht, deren Tiefe und deren Ufer er nicht gekannt hätte! Keine Klippe, kein Riff, kein Felsgang unter Wasser, die ihm nicht vertraut wären! Keine Enge, kein Kanal, wo er nicht ohne Kompaß und Lotsen zurecht gefunden hätte durch all die vielen Krümmungen und Wendungen, die jede Fahrstraße in diesen Gewässern macht! Es erklärt sich also leicht, wie er seine Sakolewa, aller falschen Signale seiner Landsleute ungeachtet, mit dieser sichern Hand hatte steuern können. Zudem wußte er, welche Vorsicht den Leuten von Vitylo gegenüber am Platze war. Er hatte sie ja schon bei der Arbeit gesehen! und vielleicht war er im Grunde genommen gar kein Feind ihrer seeräuberischen Bräuche, so lange er persönlich wenigstens nicht darunter zu leiden brauchte.
    Aber wenn Nikolas Starkos seine Landsleute kannte, so kannten auch seine Landsleute ihren Nikolas Starkos. Seit dem Tode seines Vaters, der zu den Tausenden gehörte, die türkischer Grausamkeit zum Opfer fielen, wartete seine von Rachedurst erfüllte Mutter nur auf die Stunde, wenn ihr Volk sich gegen das ottomanische Joch erheben würde, um als erste sich gegen die Todfeinde zu kehren. Nikolas selber hatte das Magnos in seinem 18. Jahre verlassen, um die See oder, richtiger gesagt, den Archipel zu befahren, und zwar nicht bloß als Seemann, sondern auch als Seeräuber. An Bord welcher Schiffe er während dieser Zeit gedient hatte, unter

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