Der Architekt
ohnehin schon spät.«
Sie nickte. Es war nicht ihre Art, sich frühzeitig nach Hause schicken zu lassen, aber für heute schien selbst Frau Belting genug zu haben.
Ich lächelte ihr zu. »Vielen Dank noch mal.« Dann kehrte ich mit dem Paket in der Hand in mein Zimmer zurück und schloss die Tür hinter mir. Ohne mich hinzusetzen, nahm ich einen Brieföffner aus der Schale auf meinem Schreibtisch und schnitt das braune Packpapier auf. Durch den Schlitz hindurch konnte ich einen dicken Stoß DIN -A 4- Seiten erkennen. Ich schüttete die Seiten aus dem Umschlag heraus auf den Tisch.
»Der Architekt« stand in fetten Lettern auf dem obersten Blatt. Sonst nichts.
Ich ging um den Schreibtisch herum, ließ mich in meinen Stuhl sinken und drehte den Stoß Blätter zu mir herum. Fast fürchtete ich mich, die Titelseite umzulegen und zu sehen, was darunter zum Vorschein käme. So lehnte ich mich erst mal zurück, drückte die hohe Rückenlehne meines Bürostuhls in eine bequeme Schräglage und legte die Füße auf den Schreibtisch.
Den Plädoyerentwurf, an dem ich gearbeitet hatte, als der junge Mann in die Kanzlei geplatzt war, hatte ich fast schon vergessen. Mein Blick wanderte zum Fenster hinaus, durch das hindurch ich in der Ferne die mächtige Kuppel des Berliner Doms erkennen konnte. Dahinter verfärbte sich der winterliche Himmel allmählich vom fahlen Blau des Nachmittags in das rötliche Schimmern des Abends.
»Um sie herum war es dunkel. Aber sie wusste, dass sie nicht allein war.«
Ohne es richtig bemerkt zu haben, hatte ich die Blätter auf meinen Schoß gezogen und begonnen, die obersten Zeilen der ersten Seite zu überfliegen.
»Sie konnte ihn hören. Das Wasser, das sein Körper verdrängte, klatschte leise gegen die Stahlwand des Behälters.«
Es war, als ob ich in den Text hineinstürzen würde.
2
Um sie herum war es dunkel. Aber sie wusste, dass sie nicht allein war. Sie konnte ihn hören. Das Wasser, das sein Körper verdrängte, klatschte leise gegen die Stahlwand des Behälters.
Bevor das Licht gelöscht worden war, hatte sie einen Blick auf sein Gesicht geworfen. Seine Züge waren klar und ebenmäßig gewesen, seine Augen aber hatten unstet gewirkt. Als hätte er ihren Blick nicht ohne weiteres erwidern können, als hätte er geschwankt zwischen einer scharfen Ungeduld und dem Gefühl, dass das, was er vorhatte, unerlaubt oder nachgerade falsch war.
Vorsichtig bewegte sie die Beine unter sich, um in dem warmen Wasser nicht unterzugehen. Die Flüssigkeit, in der sie schwamm, war seltsam schwer, als wäre etwas Öl mit dem warmen Wasser vermengt worden. Hatte er sich ihr genähert? Sie hielt die Luft an. Das Plätschern hatte aufgehört. Nur ein entferntes Summen drang durch das Schwarz, das sie umgab. Sie nahm sich zusammen, um nicht in Panik auszubrechen, konzentrierte sich darauf, gleichmäßig mit den Füßen zu treten. Die Haare, die man auf ihrem Kopf zu einem kunstvollen Knoten aufgetürmt hatte, hatten sich teilweise gelöst und klebten an ihrem Hals, ihren Schultern. Das Parfüm, mit dem sie eingesprüht worden war, vermengte sich mit dem schweren Duft des öligen Wassers, und sie hatte den Eindruck, als würde es das Atmen erschweren. Als sie beim langsamen Rudern mit den Armen ihre eigene Haut berührte, spürte sie den Film, der sich daraufgelegt hatte.
»Hallo?«
War er noch da? Sie registrierte einen leichten Sog im Wasser unter sich. Tauchte er unter ihr hindurch? Ruckartig zog sie die Beine an – die Flüssigkeit unter ihr schien sich zu bewegen, die Bewegung sich in ihren Rücken zu verlagern.
Sie fuhr herum. »Bist du noch da?«
Ein Luftzug wehte über ihren Kopf hinweg. Kurz blinkte etwas auf, als ob eine Luke geöffnet würde. Dann spürte sie seine Hand an ihrem Hals, an ihrer Seite. Er drückte sie gegen die warme Stahlwand des Beckens. Tiefschwarz zeichnete sich sein Umriss im Dunkeln vor ihr ab.
3
»War die Haustür verschlossen?«
»Ja.«
»Wie sind Sie hineingekommen?«
»Ich habe einen Schlüssel, den hat mir Frau Götz gleich zu Beginn meiner Tätigkeit gegeben.«
»Sie haben also die Tür aufgeschlossen.«
»Ja.«
»Was geschah dann?«
»Ich … entschuldigen Sie, ich … es war ziemlich schlimm, wissen Sie, es fällt mir schwer, einen klaren Kopf zu behalten, wenn ich daran denke.«
»Das kann ich verstehen, Frau Lenz. Sie brauchen sich nicht zu beeilen, wir haben Zeit. Erzählen Sie uns ganz ruhig, eins nach dem anderen, was Sie erlebt
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