Eisweihnacht
D ie Kälte war so beißend, dass einem in dem Augenblick, wo man ins Freie trat, die Feuchtigkeit in der Nase gefror. Ließ man sich davon nicht schrecken und ging weiter, bekam man den Eindruck, es müssten bald Zapfen aus den Nasenlöchern wachsen. Den Bettlern und den Marktleuten geschah auch genau das. Der Winter 1844 war der kälteste seit einer Generation. Niemand, der jetzt auf der Welt war, sollte je wieder einen solchen Winter erleben, auch nicht die Kinder und Enkel, und keine so schwere Hungersnot, wie sie am Ende aus der Eiseskälte erwuchs.
In diesem entsetzlichen Winter nun geschah dem kleinen Josua Anspach das Schlimmste, was einem siebenjährigen Kind geschehen kann. Im Sommer schon war der Vater an einem Sumpffieber gestorben, das er sich auf Reisen in Oppenheim geholt hatte. Anfang Dezember dann verblutete die Mutter bei der Geburt eines Geschwisterchens im Kindbett.
Josua hatte einen jüngeren Bruder, den genau wie das Neugeborene Verwandte zu sich nahmen. Josua selbst aber gaben die Verwandten, nach einigen geheimen Debatten und etwa zwei Wochen nach dem Tod der Mutter, mitten in der Nacht einem Postillon in Obhut, mit dem Auftrag, das Kind nach Frankfurt zu bringen. Bei sich trug der Junge nichts außer etwas Proviant in der Westentasche, eine zum Bündel geschnürte Decke für die Reise sowie einen schwarzen Ledergurt mit einem versiegelten Brief darin, den er in Frankfurt, so sagte man ihm, der erstbesten vertrauenswürdig aussehenden Person in die Hand geben sollte.
Josua wehrte sich nicht. Er fühlte sich wie gelähmt. Seit dem Tod der Mutter war das Leben zu einem bösen Traum geworden, aus dem er beständig hoffte aufzuwachen. Die ganze Zeit hatte er kaum geweint und kaum geredet und kaum gegessen. Seine Mutter sollte tot sein? Das musste sich doch als falsche Nachricht erweisen, als Missverständnis! Jede Minute musste Mama aus der Tür des Schlafzimmers treten, in ihrem himmelblauen Nachtrock mit roten Wangen und aufgelösten Haaren, und ihn in den Arm nehmen. So sehr vermisste Josua seine Mutter, dass er fast sicher gewesen war, seine Sehnsucht müsse bewirken, dass sie irgendwann erschien.
Jetzt aber, als die Tante ihn in die Kutsche setzte, bei Frost und Dunkelheit, zu einem fremden Herrn mit hohem Zylinder und buschigen Brauen, da wusste Josua mit einem Mal, dass er wirklich und wahrhaftig seine Mutter verloren hatte und dass er selbst verloren war, ganz und gar verloren. Der fremde Herr hatte eine schmale Oberlippe und einen gelben Stock und eine Daunendecke auf den Knien und sah ihn im Licht der Laterne scharf an. Die Bank war hart und kalt, und Josua kam mit den Füßen nicht auf den Boden. Als der Wagen losfuhr, begann er zu weinen. Sofort gefroren die Tränen auf seinem Gesicht und schmerzten ihn, und da weinte er noch mehr.
I m Haus des Frankfurter Grossisten Best, Kaufmann für Spezereiwaren und Importartikel, erwartete man am folgenden Mittag wichtigen Besuch. Nur die Person, der dieser Besuch galt, ahnte davon nichts. Diese Person war Herrn Bests älteste Tochter Elise, die mit dreißig Jahren (Gehässige munkelten: über dreißig) noch unverheiratet war. Fräulein Elise Best saß allerdings nicht tagein, tagaus untätig im Stübchen, sondern ersetzte als Gehilfin im Geschäft ihres Vaters diesem immerhin einen männlichen Angestellten. Gerade stand sie fröstelnd im Gewölbe, einem riesigen, unterirdischen Verlies, das sich in drei hohe Räume aufteilte, verbunden durch niedrige Gänge. Das Gewölbe war größer als der Grundriss des Hauses, aus hellem Sandstein gemauert, der hier und da weiße Salzkrusten und gelbe Flechten angesetzt hatte, und es bildete gleich nach Erfahrung und Renommee das wichtigste Kapital des Best’schen Geschäfts. Denn ein Frankfurter Kaufmann, der kein Gewölbe besaß, musste eines mieten. Und billig war das nicht.
Elise Best stand, Laterne in der Hand, vor den Weinflaschen. Sie lagerten auf einem Gestell im Gelass ganz hinten, neben dem strengen, steinharten italienischen Käse, der in großen runden Laibern auf einem Holzregal gestapelt war. Elise konnte kaum glauben, was sie entdeckte. Alle Flaschen waren geplatzt. Alle. Niemals war dergleichen vorgekommen. Dazu hatte man eben ein Gewölbe, damit es nicht vorkam. Aber verwunderlich war es nicht. Die Temperatur war nach langen, strengen Frostwochen nun auch hier drinnen unter den Gefrierpunkt gesunken; sogar weit darunter, wenn Elise richtig spürte. Sie sah sich im Rest des Lagers um.
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