Der Architekt
musste, ließ sich das erklären? Ja, musste es nicht
das
gewesen sein, was meine Sekretärin gemeint hatte, als sie bei meinem Anblick ausrief: Um Gottes willen, was ist nur mit Ihnen geschehen? Dass ich mich
verändert
hatte?
Zwei Tage lang habe ich jetzt versucht, diese Gedanken und Befürchtungen, die mich fest im Griff haben, seitdem ich Lindenberger im Gerichtssaal habe sitzen sehen, niederzukämpfen, von mir zu schieben, abzustreifen. Vergeblich. So sehe ich nunmehr keinen anderen Ausweg, als Ihnen, lieber Freund, das Manuskript, das er mir überreicht hat, meinerseits zu übersenden.
Denn das ist es, was mich nach wie vor mehr als alles andere quält: Liegt der Vorstellung, der Besuch in dem Haus würde einen im wahrsten Sinne des Wortes verändern, infizieren, ja, letztlich um den Verstand bringen, liegt dieser Vorstellung tatsächlich eine
reale Bedrohung
zugrunde? Oder ist sie selbst nichts anderes als Irrsinn, eine Chimäre, ein Wahn? Gibt es wirklich etwas, das sich überträgt und seinen Ursprung in Götz’ Haus im Haus hat, etwas, das womöglich dort entsteht, weil es dieses Geheimhaus offiziell gar nicht gibt? Etwas, das Christine in den Wahnsinn getrieben, Ben auf die Anklagebank gebracht
und jetzt auch mich befallen hat!
Oder ist die Vorstellung, dass es so etwas gibt, nichts anderes als pure Einbildung und Illusion?
Das ist es, was mir keine Ruhe lässt.
Und so weiß ich mir keinen anderen Rat, als Ihnen, lieber Freund, diese Seiten zusammen mit dem Manuskript Lindenbergers zu schicken. Denn von Ihrer Reaktion hängt letztlich die Diagnose für mich selbst ab. Sie staunen? Ja, liegt es denn nicht auf der Hand? Ist es nicht so, dass ich, indem ich die Nachricht von der Existenz dieses Hauses an Sie weiterleite,
beweise,
dem Infekt, der von diesem Haus ausgeht, selbst erlegen zu sein? Gerade weil ich ihn auf diese Weise selbst
weiterverbreite? Und eine Verbreitung des Bösen selbst böse ist!
Sie sehen es selbst: Die Antwort auf die Frage, die mich seit Tagen quält, liegt in Ihren Händen. Wenn Sie sich entschließen sollten,
nicht
nach dem Haus zu suchen, beweisen Sie, dass auch ich nichts Böses getan habe. Der giftige Infekt wird nicht weiterverbreitet, das Böse nicht ausgesät. Sollten Sie sich jedoch entschließen, das Haus nicht nur zu suchen, sondern auch zu betreten, und daraufhin diesen Text hier an andere Menschen weitergeben, ihn empfehlen und davon berichten, dann allerdings beweisen Sie, dass nicht nur ich,
sondern auch Sie
dem Wahnsinn, der von diesem Haus ausgeht, erlegen sind. Dann wird bewiesen sein, dass auch Sie sich haben infizieren lassen von der verfluchten Sucht.
Und jeder weitere Leser, dem Sie diese Seiten, die ich Ihnen heute schicke, empfohlen haben und der sich, von der Lektüre entzündet, auf den Weg macht, das Innenhaus zu suchen, wird ein Beweis mehr dafür sein, dass die beklemmende Furcht Lindenbergers, er selbst und alle, die davon erfahren, könnten mit hinein-, hinabgezogen werden in diese Sucht, kein Hirngespinst war, sondern eine nur allzu gesunde Reaktion auf eine nur allzu reale Bedrohung!
Wie gesagt: Die Entscheidung, ob Sie den Text verbreiten oder verbrennen, ob Sie ihn auf Ihre Bekannten und Freunde, ja, letztlich auf die Menschheit loslassen oder sie davor bewahren – und nur diese Entscheidung beweist mir ja erst, ob ich mich wirklich angesteckt habe oder ob all dies nur eine Wahnvorstellung ist –, diese Entscheidung überlasse ich Ihnen.
Ich selbst aber weiß, dass ich nicht anders kann, als mich heute Nacht erneut auf den Weg zu machen, um das Feuer, in dem ich ohnehin schmore, seitdem ich zum ersten Mal von dem Haus gehört habe, ein weiteres Mal um ein Vielfaches anzuheizen.
Ich weiß, dass ich mich auf den Weg machen werde, um die Räume aufzusuchen, von denen ich mich schon einmal habe verschlingen lassen – auf den Weg in das Haus im Haus.
Heute Nacht? Ach was!
Jetzt gleich schon werde ich aufbrechen, jetzt sofort, jetzt, jetzt
JETZT !
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Über Jonas Winner
Jonas Winner, geboren 1966 in Berlin, promovierter Philosoph, arbeitete nach dem Studium in Berlin und Paris als Journalist, Redakteur für das Fernsehen und als Drehbuchautor (ARD, ZDF, Sat 1). 2011 startete er, als ePub-Original, seinen siebenteiligen Fortsetzungsthriller
Berlin Gothic,
der im Netz ein sensationeller Erfolg ist. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
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Über dieses Buch
Ein spektakulärer Mordfall, eine Mediensensation: Der Berliner
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