Der Atem der Angst (German Edition)
schmalen Spalt ins Innere der Höhle. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das Licht der aufglimmenden Fackel gewöhnt hatten. Auf einem Baumstumpf, den sie in der letzten Woche unter großer Kraftanstrengung hereingeschleppt hatte, standen ein paar geschnitzte Schüsseln mit getrockneten Beeren und Bucheckern. An der Felswand lehnten von ihr gefertigte Waffen. Speere, Fischfanggeräte und ein Gewehr, für das sie längst keine Munition mehr hatte.
Bei ihrem letzten Gang durchs Revier hatte sie oben am Falkenstein ein gelbes Regencape gefunden. Es war der größte Schatz, den sie besaß. Auf dem felsigen Höhlenuntergrund lagen Kaninchen- und Rehfelle, und darauf saß ihr Teddy Lukas, der über ihren Schlaf wachte, seit sie ein kleines Mädchen war, und dessen platt gedrückter Bauch ihr nun als Kopfkissen diente.
Maya legte sich neben ihn und blickte ihm in seine schwarzen Knopfaugen. Sie flüsterte: » Ich hab Zahnschmerzen. Da hinten.«
Maya machte ihren Mund auf und zeigte Lukas die geschwollene Stelle im Kiefer. » Sieht es sehr schlimm aus?«
Ihrer Einschätzung nach machte er ein besorgtes Gesicht.
Maya zog den Teddy eng an sich. » Seit heute Nachmittag ist es immer schlimmer geworden. Zuerst war es nur ein leichtes Ziehen. Aber jetzt zersprengt es mir fast den Schädel.«
Lukas’ Plüschfell legte sich weich um Mayas geschwollene Wange. Sie schloss die Augen. » Wenn es nicht besser wird, müssen wir etwas unternehmen. Dann muss ich mir den Zahn irgendwie ziehen. Und das wird schwer. Das kann ich dir sagen. Das ist ein Mist-Backenzahn. Die haben richtig lange Wurzeln.«
Obwohl Maya dagegen anredete, wusste sie längst, worauf diese Sache hinauslaufen würde. Der Schmerz pulsierte und puckerte aufgeregt in ihrem Kiefer. Es war unmöglich, sich ohne Zange selbst einen Backenzahn zu ziehen. Sie würde ihn irgendwie anders aus ihrem Mund bekommen müssen. Und wenn das schief ging, war sie gezwungen, ihrem alten Zahnarzt in St. Golden einen Besuch abzustatten. Wenn sie jemand da unten erkannte, würde sie damit womöglich die Jagdsaison eröffnen. Und vielleicht war Dr. Bernhard ja auch ein Widerwärtiger?
Dann würde sie ihn töten. Mit einem Schnitt durch die Kehle. Ganz routiniert. So wie sie es bei den Rehböcken machte. Zärtlich legte sie ihnen einen Arm um den Hals, mit der anderen Hand zog sie das Messer durchs Fleisch und durchtrennte sanft die Luftröhre und Halsschlagader. Der Tod trat nicht sofort ein. Sie musste das Tier festhalten, es beruhigen, zeigen, dass alles gut war und ihm nichts mehr geschehen konnte, jetzt nicht mehr. Doch einen Menschen zu töten, war etwas anderes, als einen Rehbock zu erlegen.
Maya flüsterte in die vollkommene Stille hinein: » Hilf mir, Papa. Was soll ich tun?«
Ihr Vater hätte ihre Hand gehalten und leise mit ihr gesprochen, so, wie er es jeden Abend vor dem Schlafen getan hatte. Er hatte ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und sie gehalten, wenn sie Albträume gehabt hatte. Maya spürte, wie das Fieber und der Schüttelfrost bereits an ihren Körperwänden emporkrochen. Auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß. Sie hatte Angst. Sie wollte nicht hinunter nach St. Golden. Sie hatte so lange im Wald durchgehalten. Sie war so lange in Sicherheit gewesen. Sie wollte nicht sterben. Noch nicht.
6 . LOUIS
» Stimmt so, Easy.« Louis warf der mit Blumenmustern tätowierten Barfrau einen Fünfer hin und nahm die bis zum Rand gefüllten Biergläser.
Es war kurz vor zehn. Seit über einer Stunde wartete er darauf, dass Michelle endlich zurückrief. Vom Filialleiter war er hochkant rausgeworfen worden, nachdem der vergeblich versucht hatte, aus Louis herauszukriegen, wer von den Lagerarbeitern ständig Katzenfutter mitgehen ließ. Hatte der Typ keine anderen Hobbys? Wovon, verdammt noch mal, sollten Louis und seine Mutter jetzt leben?
In der baufälligen Billardkneipe stand die Luft. Der Boden klebte vom verschütteten Bier und in den Ecken machte sich schon der Schimmel breit. An den mit Brandlöchern verzierten Billardtischen drückten sich ein paar von den Männern herum, die drüben im Sägewerk arbeiteten. Einen von ihnen hatte Louis genau im Visier. Dieser breitschultrige Typ mit den stechend blauen Augen war ihm vor Kurzem nachts zu Hause entgegengekommen. Total nackt, auf dem Weg zum Klo. Hatte offenbar gerade mit seiner Mutter geschlafen.
Am liebsten hätte Louis seinen ganzen Frust an ihm ausgelassen. » Wichser.« Das hätte er gerne
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