Der Atem der Angst (German Edition)
Eltern versuchen’s echt im Minutentakt.« Michelle schaltete ihr Handy endgültig ab und drückte Louis einen Kuss auf den Mund. » Ich geh jetzt besser. Sonst killen mich diese Stresser noch. Wir sehen uns morgen in der Schule. Bevor ich schlafen gehe, ruf ich dich aber noch mal an und wünsch dir eine gute Nacht.«
» Ich freu mich drauf!« Louis küsste Michelle und ließ sie aus dem Kühlraum. Als er die Stahltür wieder zugedrückt hatte, fiel sein Blick auf die riesige Plastiktüte mit den Splatterkostümen und den Kinderrucksack ihrer Schwester Leonie. Er grinste. Typisch Michelle. Ständig ließ sie ihre Sachen bei ihm liegen. Ihre rote Collegejacke war auch schon in seinen Besitz übergegangen.
Kurz nach halb neun kniete Louis im » Popcorn-Käfig« und zählte kleine, bunte Popcorntüten für 99Cent. Mann, war das erniedrigend. Die paar Kunden, die sich hier abends in den neonlichthellen Gängen herumdrückten, guckten ihn auf dem Weg zur Kasse an, als sei er King Kong höchstpersönlich. Die meisten kauften Bier oder Chips, irgend so einen Müll. Louis warf eine Tüte nach der anderen hinter sich.
Gerade als er zur Hälfte durch war, wurde er über Lautsprecher ins Büro des Filialleiters gerufen. Louis blickte zu ihm hinauf. Der Typ stand da hinter der großen Fensterscheibe, von der aus er den gesamten Markt überblicken konnte, und winkte ihm mit einem gehässigen Grinsen zu. Missmutig stieg Louis aus dem Käfig, sprang die Stahlstufen zum Büro seines Chefs hoch und klopfte an die offene Tür.
Der Filialleiter war ein Choleriker mit Aknenarben auf den Wangen, der voll darauf abfuhr, seine Mitarbeiter zu schikanieren. Er drehte sich langsam zu Louis um. Heute trug er einen fliederfarbenen Anzug und hellbraune Lederslipper und roch, als hätte er eine Aftershavedusche genommen. Seine Stimme bebte und drohte ihm regelrecht wegzubrechen. » Ich habe gehört, du hattest heute zum wiederholten Mal Besuch?«
Louis zuckte mit den Schultern. » Kann schon sein. Müssen wir das jetzt besprechen? Ich zähle gerade Popcorntüten.«
» Allerdings.«
» Ich hab aber keine Lust, mir Ihre Standpauke anzuhören. Ich weiß ja sowieso, worauf das hinausläuft.« Louis’ Herz raste. » Ich soll vor Ihnen niederknien und hoch und heilig schwören, dass das nie wieder passiert, und dann feuern Sie mich trotzdem. Hab ich recht?«
Der Filialleiter grinste: » Kluger Junge. Es sei denn, du hast eine Info für mich.«
4 . HEIDI
Heidi zog hinter sich die Haustür ins Schloss und rannte mit eingezogenem Kopf und offener Winterjacke durch die Eiseskälte zu ihrem Volvo Kombi. Dies war ein Notfall. Und sie hatte noch immer keine Babysitterin für ihren achtjährigen Sohn Winnie organisiert. Unverantwortlich bei ihrem Job. Als Kriminalkommissarin war sie zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Sprung. Schon wieder musste sie ihn mit einer Schüssel Cornflakes und dem Fernseher allein lassen. Vor einem halben Jahr hatte ihr Exmann resigniert das Weite gesucht. Er hatte nicht ertragen können, dass Heidi ihre Arbeit mindestens genauso wichtig nahm wie ihre Ehe. Nur deshalb war sie mit ihrem Sohn aus der Stadt in dieses Kaff gezogen. Um Eric nicht dauernd über den Weg zu laufen. Und um sich mehr um Winnie zu kümmern. Zumindest war das ihr Plan gewesen, während sie nun doch Abend für Abend im Präsidium saß, um sich einzuarbeiten. Eigentlich hatte, seit sie hier wohnten, nur ihr Sohn eine neue Freundin gefunden: Leonie, ein Mädchen aus seiner Klasse.
Es war kurz vor neun Uhr abends. Vom Himmel nieselte eine kalte Schneematsche. Zielstrebig lenkte Heidi ihr Auto durch die Gassen der Altstadt in Richtung Markt. Sie kannte den Weg zu den Leuten, die schon auf sie warteten. Es waren die Eltern von Leonie. Seit dem späten Nachmittag war die Neunjährige spurlos verschwunden.
Vier Minuten später parkte Heidi ihren Wagen hinter der Kirche vor dem schmalen Fachwerkhaus, das in einer ganzen Reihe von Fachwerkhäusern klemmte, die sich windschief in den eisigen Himmel reckte. Aus den Fenstern drang fahles Licht. Heidi stieg aus, und bevor sie überhaupt zwei Schritte gemacht hatte, rutschte sie auf dem Kopfsteinpflaster aus und landete auf ihrem Hinterteil. » Verdammte Sch…«
Im Schein der Straßenlaterne humpelte sie mit nasser Jeans rüber zur angelehnten Tür, an der ein gebastelter Pappkürbis hing. Heidi zählte bis drei. Es war jedes Mal derselbe schwere Kloß, der ihr im Hals saß, wenn sie zu Leuten musste, bei
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