Der Atem der Angst (German Edition)
denen das Unheil an die Tür geklopft hatte. Daran hatte sich all die Jahre nichts geändert. Sie atmete tief durch, zwang sich ein Lächeln ab, das eher zu einer bösen Hexe gepasst hätte als zu einer zuversichtlichen Kriminalkommissarin, und drückte auf die Klingel. » Okay, dann wollen wir mal.«
Keine zehn Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und Sarah, Leonies Mutter, klammerte sich an ihr fest. » Danke, dass du gekommen bist. Ich drehe noch durch. Nini kommt sonst immer sofort nach Hause. Wir haben schon alle ihre Freundinnen durchtelefoniert. Keine von ihnen weiß, wo sie ist…«
» Okay, jetzt beruhige dich erst mal.«
» Ich kann nicht.«
Heidi schob Sarah vor sich her in den Hausflur. » Wir gehen jetzt alles in Ruhe der Reihe nach durch.«
Sarah nickte. » Sie kommt sonst immer sofort nach Hause. Ich weiß, dass da was passiert ist.« Mit ihrem hellblonden Haar und dem rosafarbenen Samt-Jogginganzug sah Sarah aus wie ein Teenagermädchen, dabei musste sie Mitte vierzig sein. » Entschuldige. Ich bin etwas neben der Spur.«
» Atme ganz tief durch. Das hilft.« Heidi streifte die Schuhe ab und warf einen Blick ins Wohnzimmer. » Wo ist Jens?«
» Oben im Arbeitszimmer. Er telefoniert mit seiner Schwester und fragt, ob sie was von Leonie gehört hat.« Plötzlich schlackerte Sarah mit den Händen, als hätte sie sich verbrannt. » Heidi, ich glaube, ich halte das nicht aus, dieses Warten. Wirklich!« Sie warf ihr einen flehenden Blick zu. » Hilf uns bitte!«
Als hätte Heidi eine Pille parat, die alles wieder gut machen würde. Auch daran hatte sich nichts geändert. Die Leute dachten immer, wenn nur erst die Polizei kam, müssten sie keine Angst mehr haben. Dabei wusste Heidi, dass es jetzt erst richtig anfing. » Versuche, dich zu beruhigen, Sarah. Es bringt uns kein Stück weiter, wenn du auch noch die Nerven verlierst. Hörst du?! Du musst klar im Kopf bleiben.« Heidi blickte Sarah streng an. » Wir finden eure Kleine. Aber nur wenn du ruhig bleibst und alles erzählst, was du weißt.«
Sarah schniefte und drückte die Haustür zu. » Sie war beim Training. Drüben in der Sporthalle. Das geht immer bis sechzehn Uhr dreißig. Um Viertel vor fünf ist sie dann meistens wieder hier.«
» Okay.« Heidi schaute den mit apricotfarbenem Flauschteppich ausgelegten Flur entlang. Alles war gemütlich eingerichtet. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen, Hausschuhe verschiedener Größe lagen in einem Weidenkorb unter der Treppe, die nach oben führte. Auf einer Kommode stand neben einer Ansammlung kitschiger Keramikschafe ein gerahmtes Foto von Leonie im Turnanzug. Hellblonder Pferdeschwanz. Pony. Hübsches Kindergesicht. Etwas zu große Schneidezähne. Sehr dünn. Bei irgendeiner Siegerehrung. Neben der Kommode waren ein paar ausgehöhlte Kürbisse mit eingeschnitzten Grimassen aufgebaut.
» Willst du irgendwas trinken? Kakao? Tee? Kaffee?« Sarah wischte sich hektisch mit ihrem Ärmel über die Augen.
» Mach dir keine Mühe.« Heidi beugte sich runter und klappte Leonies Schulranzen auf, der neben dem Schuhregal stand. Darin lagen ein paar Schulbücher, ihr Federetui und ein zusammengeknülltes Schokoriegelpapier. » Hat sie ihr Handy dabei?«
Sarah schüttelte den Kopf. » Das hat sie hier gelassen, damit ihr das beim Training niemand klaut.«
Von oben kam Jens, ein bulliger Zwei-Meter-Mann, die schmale Treppe runter. In ihrem Leben hatte Heidi noch nie ein derart aschfahles Gesicht gesehen. Als er unten angekommen war, reichte er ihr die Hand. » Bestimmt machen wir hier den Hund in der Pfanne verrückt, aber du kennst ja unsere Kleine. Die ist sonst sehr zuverlässig.«
» Verstehe.« Heidi lächelte kurz. Dann wurde ihr Blick wieder ernst. »Hat sie euch mal belogen? Geld aus euren Portemonnaies geklaut? Heimlich Süßigkeiten gekauft?«
Sarah und Jens starrten sie ungläubig an. » Nein, hat sie nicht«, sagte Sarah schließlich. » Warum fragst du?«
» Könnte ja sein, dass sie Freunde hat, von denen ihr nichts wisst.« Von oben war leise Musik zu hören. Heidis Blick ging in Richtung Zimmerdecke: » Ist Michelle da?«
Jens seufzte. » Die junge Dame sollte eigentlich drüben im Hotel sein. Wir haben schon versucht, sie zu erreichen. Aber an der Rezeption ist der Teufel los. Alle wollen übermorgen beim Halloweenumzug dabei sein. Sie schaltet nie ihren CD -Player aus, obwohl wir ihr schon hundertmal gesagt haben, dass das Strom verbraucht. Das Licht lässt sie auch immer
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