Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
von fremdgalaktischen Ameisen sehr weit von dem entfernt wäre, was wir als Menschen kennen und zu bezeichnen gewohnt sind. Die Zweibeinigkeit und der damit zusammenhängende aufrechte Gang sind ein so hervorstechender Bestandteil unseres ‹Bildes› vom Menschen, dass wir sie aus unserem ‹Begriff› vom Menschen nur schwer heraushalten können. Dies gilt zunächst natürlich für den Alltagsbegriff. Oft orientieren sich unsere Alltagsbegriffe an Prototypen: an paradigmatischen Exemplaren der Gegenstände, auf die sie zutreffen sollen. Und wenn es um den ‹Menschen› geht, gelten kriechende Säuglinge offenbar ebenso wenig als Prototypen wie gebeugte, am Stock gehende Greise. Prototypisch sind vielmehr Individuen, die auf zwei Beinen aufrecht stehen und gehen. Da philosophische Begriffe meist an unser Alltagsvokabular anknüpfen und auf ihm aufbauen, sind Kontaminationen mit Anmutungsqualitäten nicht immer leicht zu vermeiden. Das zeigt sich auf ganz andere Weise auch an dem Fall des von Ibn Tufail beschriebenen ‹wilden Kindes›. Die Anmutungsqualität der menschlichen Ausscheidungsorgane ist zweifellos eine andere als die des aufrechten Ganges; und ganz offenbar gilt die Letztere als attraktiver. Dies liegt sicher nicht nur an den olfaktorischen Assoziationen, die die ersteren hervorrufen. Die spezifische körperliche Gestalt des Menschen bietet eine solche Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten für mehr oder weniger phantasievolle Deutungen, wie wir sie uns bei den Ausscheidungsorganen nur schwer vorstellen können (und wollen). Etliche werden wir in den folgenden Kapiteln noch kennenlernen.
Damit haben wir uns einem zweiten Grund genähert. Bestärkt wird die Macht des Augenscheins nämlich dadurch, dass der Mensch sich durch seine Zweifüßigkeit deutlich von den vierfüßigen Tieren abhebt. Dieser Punkt ist von erheblicher Bedeutung und zieht sich durch die gesamte Geschichte des anthropologischen Denkens. Bei der Erarbeitung eines Selbstverständnisses und der Bildung eines entsprechenden Begriffs musste sich der Mensch ja nicht nur positiv bestimmen, sondern auch negativ. Er musste Klarheit darüber gewinnen, was er ist und was er nicht ist. Abzugrenzen hatte er sich nach zwei Seiten: nach ‹oben› gegen die Götter und nach ‹unten› gegen die Tiere. Besonders in den frühen Phasen scheinen die Götter die dominante Kontrastklasse gewesen zu sein. Dafür spricht die Etymologie des griechischen Ausdrucks ‹anthropos›, der zunächst wohl ‹die unten Wohnenden› bedeutete. In der vorsokratischen Philosophie, so weit sie sich überhaupt mit dem Menschen befasst hat, scheint dessen Verhältnis zu Göttern eine Schlüsselrolle gespielt zu haben. [7] Für diese Abgrenzung kam die Zweifüßigkeit des Menschen nicht in Frage, denn man mochte sich die Götter, wenn man sie sich denn überhaupt als körperliche Wesen vorstellte, nicht vier- oder mehrfüßig vorstellen. – Ihren großen Auftritt hatte sie erst, als die zweite Kontrastklasse ins Spiel kam: die Tiere. Schon im Rätsel der Sphinx war nach einer Differenz unter den Tieren gefragt worden, denn gesucht war ein Wesen, «das allein von allem Getier, das sich auf der Erde bewegt, in der Luft und im Meer, seine Haltung» verändert. Desgleichen waren die berüchtigten Dihäresen im Politikos vom Allgemeinbegriff ‹Lebewesen› bzw. ‹Tier› ausgegangen, hatten diese Klasse dann in wild lebende und zahme geschieden, bis schließlich die finale Differenz zwischen vier- und zweifüßigen Tieren erreicht war. Und schließlich wird die Zweifüßigkeit in der aristotelischen Topik als eine «Eigentümlichkeit» (gr.: idion; lat.: proprium) des Menschen charakterisiert: als eine Eigenschaft, durch die sich der Mensch von anderen Lebewesen abhebt. Ausdrücklich heißt es: «Eigentümlichkeit von ‹Mensch› im Verhältnis zu ‹Pferd› ist ‹zweifüßig›; bei ‹Mensch› liegt nämlich immer und bei jedem ‹zweifüßig› vor, kein Pferd dagegen ist jemals zweifüßig.» (V,1 129a9–10) Die Zweifüßigkeit wird also bevorzugt dort angeführt, wo nach klassifikatorischen Merkmalen gesucht wird, die Mensch und Tier voneinander scheiden. So wie die Mensch-Tier-Beziehung den Basso continuo durch die Geschichte des anthropologischen Denkens bildet, so bildet sie ihn auch durch nahezu die gesamte Deutungsgeschichte des aufrechten Ganges. Der Pinguin, ein anthropologischer Störfaktor, dem wir in der Neuzeit mehrfach begegnen werden, konnte daran
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