Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
bestimmen als die Fähigkeit des vernünftigen Denkens, die nicht von Anfang an, ja in manchen Fällen sogar niemals zum Vorschein kommt.» (158) Wenn wir durch die Betrachtung eines ‹animal› nicht herausfinden können, ob es ‹rationale› ist, dann bleiben nur äußere Kriterien für die Klassifikation und Definition. – Knapp zusammengefasst besagen die Überlegungen Lockes, dass uns die philosophische Wendung nach innen praktisch nicht weiterhilft. Welche theoretischen Vorzüge die Annahme einer Seele oder der Verweis auf die Vernunftbegabung auch immer haben mögen: Wir haben keinen empirischen Zugang zu solchen ‹wesentlichen› Eigenschaften und können daher auf ihrer Basis nicht entscheiden, ob die in Frage stehenden Individuen ‹Menschen› sind oder nicht. Für praktische Zwecke kommen nur wahrnehmbare Merkmale in Betracht und die zweifüßige, aufrechte Gestalt ist die empirische «Hauptqualität» der menschlichen Art. Zwischen verschiedenen Zwecken und Arten von Definitionen unterscheidet Locke nicht. Denn es könnte ja sinnvoll sein, Definitionen, die eine kriteriale Funktion haben, von solchen zu unterscheiden, die auf die Identifikation eines Wesens zielen. Während die Letzteren metaphysischen Zwecken dienen, würden die ersteren zur praktischen Unterscheidung verwendet.
Die Locke’sche Rückwendung nach außen hat allerdings Tücken. Solche Merkmale sind zwar empirisch zugänglich, aber unzuverlässig. Schon in der Antike hatte man bemerkt, dass die Zweifüßigkeit kein scharfes Abgrenzungskriterium zur Verfügung stellt. Denn zum einen gehen nicht alle Tiere auf vier Füßen. Nicht wenige von ihnen teilen mit den Menschen das Merkmal der Zweifüßigkeit: die Vögel. Aristoteles hat diese Tatsache mehrfach erörtert, wie sich weiter unten [5] noch zeigen wird. Auch in der kurzen Dihärese des platonischen Politikos erscheint die Zahl der Füße nur als die vorletzte Unterscheidung, die durch gefiedert/ungefiedert noch weiter differenziert werden muss. Dass auch diese Differenzierung nicht weiterhilft, war die Pointe des Witzes von Diogenes gewesen. Zum anderen sind nicht alle Menschen immer zweifüßig. Diese Tatsache hatte die Sphinx bei ihrem Rätsel ausgenutzt, als sie den Menschen als ein Wesen präsentierte, das seine Gestalt und Fortbewegungsweise ändert; er geht nur in der Mitte seines Lebens auf zwei Füßen, in seiner frühen Kindheit und im Greisenalter jedoch nicht. Auch darauf hat Aristoteles ausdrücklich hingewiesen ( Top. V,6 134a). Mit einem Wort: Es gibt kein Bikonditional, nach dem alles, was ein Mensch ist, zweifüßig geht, und alles was zweifüßig geht, ein Mensch ist. Was als Lösung eines mythischen Rätsels noch hingehen mochte, erweist sich als wenig hilfreich, wenn es um die Klassifikation der Tiere und die Definition des Menschen geht. – Locke ist diese Unzuverlässigkeit nicht verborgen geblieben. Da das innere Wesen sinnlich unzugänglich ist und äußere Merkmale unzuverlässig sind, folgt für ihn, dass wir weit davon entfernt sind, «mit Sicherheit zu wissen, was ein Mensch ist». Und weiter: «Ich finde, daß keine unserer bisherigen Definitionen des Wortes Mensch und keine der Beschreibungen dieser Art von Lebewesen so vollkommen und genau ist, daß sie einen bedachtsamen Fragesteller befriedigen könnte; viel weniger ist sie geeignet, allgemeine Zustimmung zu finden und das zu sein, woran man stets würde festhalten wollen, um etwaige Einzelfälle danach zu beurteilen, zum Beispiel über Leben und Tod, Taufe oder Nichttaufe von Lebewesen, die vorkommen können, zu entscheiden.» (1689. 72) Der Locke’sche Definitions-Skeptizismus hat philosophische Gründe, die hier nicht dargelegt werden müssen. In jedem Fall ändert er nichts an der Notwendigkeit, in den einschlägigen praktischen Fällen Entscheidungen zu treffen. Leibniz hat daher zu Recht gegen Locke eingewandt, dass wir von äußeren Kennzeichen zwar nicht mit absoluter Sicherheit auf das innere Wesen der Dinge schließen können, dass die relative Sicherheit in der Regel aber hinreicht. (1704: 351ff., 465f.) Dieser Einwand kann dahingehend verallgemeinert werden, dass die Anforderungen, die wir an Definitionen hinsichtlich ihrer Trennschärfe oder ihrer Zuverlässigkeit stellen, von den Zielen, die mit ihnen verfolgt, und dem Kontext, in dem sie angewandt werden, abhängen.
Dieser Punkt ist von grundsätzlicher Bedeutung. Was eine gute Definition ausmacht hängt von den Interessen ab,
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