Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
denen sie dienen soll. Es macht einen Unterschied, ob wir sie praktisch brauchen, um ein Individuum als ‹Mensch› klassifizieren zu können; oder ob wir sie theoretisch zur Vertiefung unseres Verständnisses des Wesens der Art ‹Mensch› benötigen. Ob wir für beide Ziele dieselbe Definition einsetzen können oder ob wir zwei verschiedene benötigen, ist eine offene Frage. Selbst wenn wir einem rein theoretischen Interesse nachgehen, können sehr unterschiedliche Aspekte und Eigenschaften als relevant angesehen und in die Definition aufgenommen werden. Nicht umsonst heben die beiden berühmten aristotelischen Definitionen Unterschiedliches am Menschen hervor: Die eine betont seine intellektuellen Fähigkeiten, die andere seine soziale Lebensweise. Definitionen heben bestimmte Aspekte des definiendums hervor und weisen damit eine Perspektivität auf, die sich aus den zugrunde liegenden theoretischen Interessen ergibt. Das ist kein Spezifikum von Definitionen des Menschen, fällt hier aber besonders auf, da er ein komplexer Gegenstand ist, an dem sehr vieles interessant sein kann: Er ist sowohl ‹animal rationale›, als auch ‹zoon politikon› und überdies auch noch zweifüßig.
Da diese Aspekte nicht exklusiv sind, kann man auf ihre Vielfalt mit einer Addition definitorischer Merkmale reagieren. Ein Beispiel dafür haben wir schon kennengelernt: die Platon und seiner Schule zugeschriebene Definition von ‹Mensch› als «Lebewesen, ohne Flügel, zweifüßig, mit breiten Nägeln, das als einziges unter allen, die es gibt, des vernunftgeleiteten Wissens teilhaftig ist.» Auch bei Aristoteles [9] werden Zweifüßigkeit und Vernunftvermögen unmittelbar nebeneinandergestellt. Eine befriedigende Lösung bieten solche Kombi-Definitionen allerdings nicht. Zu praktischen Zwecken eingesetzt, liefern sie keine eindeutigen Resultate, wenn nur ein Teil der kombinierten Merkmale vorliegt; das zeigte sich an den Beispielen Lockes. Stehen hingegen theoretische Interessen im Vordergrund, so tritt die Schwäche von Merkmalslisten noch stärker hervor, denn sie bieten kein konsistentes Verständnis dessen, was der Mensch ist. Dazu müssten sie angeben, in welcher Beziehung die aufgeführten Merkmale zueinander stehen. Ein Problem ist das in erster Linie für die Philosophie, die ja von Beginn an mit einem Anspruch auf nicht nur aspekthafte, sondern umfassende und tiefe Erkenntnis verbunden war. Das philosophische Denken kann sich nicht mit der Auskunft zufriedengeben, der Mensch habe zwei Füße und sei der rationalen Erkenntnis fähig, sondern fragt nach den Zusammenhängen zwischen diesen beiden Eigenschaften. Und damit wären erst zwei Eigenschaften ins Verhältnis zueinander gesetzt, zu den vielen anderen aber noch nichts gesagt: zur Stellung des Menschen in der Welt oder zu der ihm angemessenen Lebensweise beispielsweise. Solche Fragen sprengen aber den Rahmen dessen, was Definitionen zu leisten vermögen. Der Ort, an dem weitläufige Zusammenhänge dieser Art hergestellt und begründet werden, sind nicht Definitionen, sondern Theorien.
Wenn wir nun nach Theorien Ausschau halten, die ein integrales Bild des Menschen zu entwerfen suchen, so stoßen wir erneut auf die Schwierigkeit, dass die antike Philosophie kein sehr ausgeprägtes anthropologisches Interesse erkennen lässt. Sie macht den Menschen jedenfalls nicht zum Gegenstand einer gesonderten Theoriebildung, sondern befasst sich mit ihm nur im Zusammenhang mit anderen philosophischen Themen. Ein Beispiel dafür bietet Platons später Dialog Timaios, der eine umfassende Theorie der Welt und seiner Bewohner entwickelt und in diesem Zusammenhang auch den Menschen nicht vergisst.
5. Aufgaben eines göttlichen Wesens
Der Mensch hat jedoch anstelle von Vorderbeinen und Vorderfüßen Arme und die sogenannten Hände, denn als einziges Lebewesen steht er aufrecht, weil seine Beschaffenheit und sein Wesen göttlich sind.
Aristoteles
Sehen wir von den Details des platonischen Schöpfungsmythos ab, so lassen sich drei zentrale Thesen in ihm isolieren. Erstens ist von einer Welt die Rede, nicht von mehreren. Der Demiurg schafft ein Uni-, kein Pluri versum. Dass die Welt eine ist, bedeutet zweitens, dass ihre Elemente einen durchgängigen Zusammenhang bilden. Jedes Ding nimmt in ihr einen bestimmten Platz ein und jeder Prozess hat ein bestimmtes Ziel. Man hat sich die Welt als einen Organismus vorzustellen: als eine funktionale und hierarchische Ordnung, deren Bestandteile
Weitere Kostenlose Bücher