Personenschaden
1.
19. Juli 2008
Die Hand lag im Schotter wie ein an Land gespülter Fisch. Sie war blass und leicht aufgebläht, von zwei Fingern waren nur blutige Stümpfe übrig. Der Lokführer rannte. Er rannte weg von dem Güterzug, der kreischend zum Stehen gekommen war. Züngelten tatsächlich Flammen aus seiner blauen Dienstjacke? Oder waren das die gleißenden Strahlen der Sonne?
Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch ein weißer ICE schob sich zwischen ihn und den fliehenden Lokführer. Der rote Farbstreifen am Zug wurde länger und länger. Als er abriss, war der Lokführer verschwunden.
Die Hand lag immer noch da, als hätte jemand sie vergessen.
Er wollte sich bücken, da spürte er, wie der Schotter zu vibrieren begann. Sein Körper wurde von den Erschütterungen erfasst. Er hörte ein dumpfes Dröhnen wie von einem schweren Insekt. Nur lauter, viel lauter. Er blickte auf und sah den Triebwagen auf sich zurasen: »Die Hand. Aber da liegt noch die Hand!«
Anton Schwarz wurde von seinem eigenen Schrei aus dem Schlaf gerissen und sah sich verwirrt um. Erst als sein Blick an dem Foto mit Monika und der kleinen Luisa auf ihrem Arm hängen blieb, wusste er, dass er zu Hause in seinem Bett lag.
Es war immer derselbe Alptraum. Seit Tim Burger vorseinen Augen in eine Lokomotive gerannt war, suchte er ihn regelmäßig heim. Schwarz empfand keine Schuldgefühle, der verirrte junge Mann hatte nach seinem gescheiterten Anschlag auf eine friedliche Demo gegen Rechts selbst den Tod gesucht.
Burger war auch nicht der erste Mensch gewesen, den Anton Schwarz sterben sah. Als er noch Hauptkommissar bei der Münchner Kripo gewesen war, hatte der Tod
zum Geschäft gehört
, wie es unter den Kollegen so schön hieß.
Warum also produzierte sein Gehirn Bilder einer im Gleisbett vergessenen Hand? Schwarz hielt nicht viel von tiefenpsychologischen Deutungen:
Krapfen im Traum sind keine Krapfen, sondern ein Traum
, hatte er von seiner Mutter gelernt. Für ihn war der Alptraum eher wie ein Kratzer auf einer gern gespielten Langspielplatte. Er quälte ihn nicht schrecklich, aber er nervte.
Vielleicht bin ich mit dieser Geschichte ja noch nicht am Ende, dachte Schwarz und erhob sich stöhnend vom Bett. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihn gestern jemand verprügelt hatte, obwohl er sich genau so fühlte. Seine Tochter Luisa hatte ihm kürzlich mit Engelsgeduld ein paar Übungen beigebracht. Aber die Vorstellung, mit den Händen an den Fußknöcheln und dem Kopf zwischen den Oberschenkeln ins eigene Becken zu atmen, erschien ihm gerade nicht sehr verlockend.
Lieber braute er sich seinen morgendlichen Höllenkaffee. Als er den dampfenden Espresso aus der braunen Porzellantasse schlürfte, fühlte er sich sofort besser.
Er sah auf die Ikea-Uhr neben dem Geschirrschrank: fünf vor neun. Um neun würde seine Mutter vor der Tür stehen. Sie hatte ihren Besuch zwei Tage zuvor telefonisch angekündigt und war immer pünktlich. Schwarz goss sich Kaffee nach.
Die Tasse hatte er als Kind in einer Bar in Grado geklaut. Es war der erste und letzte Strandurlaub mit seiner Mutter gewesen, weil sie auf keinen Fall mit Sand in Berührung kommen wollte, Salzwasser verabscheute und vom Sonnenöl Ausschlag bekam. Schon nach drei Tagen hatten sie ihr Ferien-Experiment beendet und waren, um keine neuen teuren Bahntickets kaufen zu müssen, per Anhalter und zuletzt mit einem jugoslawischen Gastarbeiterbus nach Waldram zurückgekehrt.
»Kannst du dich eigentlich noch an unseren Italienurlaub erinnern?«, sagte Schwarz, als er seiner Mutter die Tür öffnete. Sein Grinsen erstarb. Wieso trug sie einen ausladenden, fliederfarbenen Strohhut, ihr hellgelbes Festtagskostüm und darüber den Fuchspelz?
»Habe ich was vergessen?«
»Höchstens mich«, sagte seine Mutter, »aber das ist ja nichts Neues.« Sie schob ihn zur Seite und trat ein.
Schwarz wollte die Tür schließen, aber auf der Schwelle stand Jo, der thailändische Kellner aus dem ›Koh Samui‹ im Erdgeschoss. Er trug zwei schwarze, abgeschabte Lederkoffer, die Hildegard Schwarz wahrscheinlich damals schon für den legendären Grado-Urlaub gepackt hatte.
»Ihre Mutter ist eine wunderbare Frau«, säuselte Jo. »Jetzt weiß ich auch, warum Sie so attraktiv sind.«
Schwarz überhörte die Bemerkung und nahm ihm die Koffer aus der Hand. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in den Rücken.
»Da kenne ich eine Übung, Herr Schwarz. Darf ich sie Ihnen
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