Der Auftrag
Priester beider Tempel die Terrasse erreicht hatten, wurde Jaryn ersucht, die Sänfte zu verlassen. Er erblickte einen langen Teppich, an dessen Ende der Thron Dorons stand. Jaryn hatte den König noch nie aus der Nähe gesehen, und auch jetzt legte er keinen Wert darauf. Unter gesenkten Lidern hielt er Ausschau nach Caelian oder Anamarna. Doch er konnte sie in der Menge nicht ausmachen.
Gemessenen Schrittes ging er auf Doron zu. Dieser Mann war nicht nur der König, er war angeblich auch sein Vater. Diese Behauptung musste er zurückweisen. Er wusste, wer Dorons Sohn war, er kam gerade von ihm. Und plötzlich streifte es ihn wie ein eisiger Hauch. Wusste man in Margan bereits, dass ein Gesetzloser der gesuchte Prinz war und hatte, weil diese Ungeheuerlichkeit nicht sein durfte, einen anderen, gefälligeren Mann ausgesucht? Einen, den Doron ohne mit der Wimper zu zucken, anerkennen würde, weil er – Jaryn – das kleinere Übel war? Sie hatten sich einen präsentablen, aber einfältigen Priester ausgesucht, natürlich. Jaryn begann, die Machenschaften zu durchschauen.
Rechts und links von ihm sanken die Menschen in die Knie. Jaryn empfand dieses Spektakel als unwürdig und grotesk, aber was würde passieren, wenn er es nicht mitspielte? Hatte er Beweise für seine Vermutung?
Wie aus Stein gemeißelt saß Doron, in seinen Königsmantel gehüllt, vor Jaryn. Kaum erschien er ihm menschlich. Er war schön und leuchtend und strahlte eine grausame Kälte aus. Razoreth! , dachte Jaryn, und ein Schauer überlief ihn, bevor er den Blick senkte und auf die Knie sank.
»Erhebe dich, mein Sohn Jaryn.«
Die Stimme war dunkel und sonderbar weich. Dennoch klopfte Jaryn das Herz bei dieser Anrede. Er erhob sich und wusste nicht, was er erwidern sollte. Stumm sah er den Mann mit den dunkelblauen Eisaugen an. Nicht ein winziges Zucken verriet seine Gefühle, obwohl er sich doch soeben seinem eigenen Sohn offenbart hatte. Ein weiterer Schauer überrieselte Jaryn, denn diese Augen, so frostig sie blickten, waren den seinen sehr ähnlich. Auch das silbern schimmernde Haar fand sich in Strähnen in seinem eigenen wieder.
Da erhob sich Doron und kam auf ihn zu. Es geschah das, wovor Jaryn sich gefürchtet hatte: Der König umarmte ihn. »Nach so vielen Jahren, Jaryn, sei willkommen im Palast deiner Ahnen.«
Jetzt brach ein ungeheurer Jubel los, und Jaryn war froh, nicht antworten zu müssen. Niemals hätte er jetzt Vater zu Doron sagen können. Es legte offensichtlich auch niemand Wert darauf, ob er etwas zu sagen hatte. Alles, was ab jetzt stattfand, ließ Jaryn wie eine Puppe über sich ergehen. Ausrufer verkündeten überall in Margan, dass der verschollene Sohn des Königs gefunden worden sei, die Thronfolge sei gesichert, und mit dem heiligen Sonnenpriester werde eine Epoche des Glücks und des Wohlstands anbrechen. Jener unselige Fluch jedoch, der über dem Hause Fenraond geschwebt hatte, sei damit zunichtegemacht worden.
Margan feierte. Von der Dachterrasse flogen kupferne und silberne Ringe, Süßigkeiten und andere kleine Geschenke. Der Fluch war gebrochen, der König hatte einen Erben, und dieser hatte Razoreth besiegt, weil ein Priester des Lichtes über die Dunkelheit triumphieren musste.
Im Palast war eine riesenhafte Tafel aufgebaut, an der Jaryn neben Doron saß, rechts vom König hatten Sagischvar und Suthranna ihre Plätze, links von Jaryn hatte zu dessen großer Erleichterung Anamarna Platz genommen. Der hatte ihm freundlich zugeblinzelt, und Jaryn hatte verzerrt zurückgelächelt. Immerhin war der Weise an seiner Seite ihm ein Halt. Allerdings jetzt bei Tisch konnte er ihn unmöglich all das fragen, was ihn erschütterte und aus ihm heraus musste.
Beim Auftragen des nächsten Ganges flüsterte er ihm kurz zu: »Ich muss Euch allein sprechen.«
Anamarna nickte. »Das kann ich gut verstehen. Morgen. Heute lass mich dir sagen, dass ich sehr stolz auf dich bin.«
Da wusste Jaryn, dass er auch von Anamarna keine Hilfe erwarten durfte.
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