Der aufziehende Sturm
sie lieber nicht aus zweiter Hand erleben.
»Das wird bei den Speeren gefährliche Worte hervorrufen«, sagte Amys nachdenklich. »Man wird nach einem Angriff verlangen, Forderungen stellen, dass der Car'a'carn seine Friedensbemühungen einstellt.«
»Werden sie bei ihm bleiben, wenn er sich weigert?«, fragte Aviendha.
»Natürlich werden sie das«, erwiderte Amys. »Sie sind Aiel.« Sie musterte Aviendha. »Wir haben nicht viel Zeit, Kind. Vielleicht sollten wir damit aufhören, dich zu hätscheln. Ich werde mir ab morgen bessere Strafen für dich einfallen lassen.«
Mich zu hätscheln? Aviendha sah Amys nach. Ihnen dürfte wohl kaum etwas noch Sinnloseres oder Demütigenderes einfallen!
Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, Amys nicht zu unterschätzen. Seufzend verfiel sie in einen Laufschritt und trabte zurück zu ihrem Zelt.
KAPITEL 16
In der Weißen Burg
»Ich bin neugierig, was die Novizin zu sagen hat. Verratet mir, Egwene al'Vere, wie wärt Ihr mit der Situation umgegangen?«
Egwene schaute von der Schale mit den Nüssen auf, in der einen Hand den eisernen Nussknacker, in der anderen eine dicke Walnuss. Es war das erste Mal, dass eine der anwesenden Aes Sedai sie angesprochen hatte. Und sie hatte schon geglaubt, dass der Dienst als Dienerin bei den drei Weißen sich nur als weitere Zeitverschwendung erweisen würde.
An diesem Nachmittag befand sie sich auf einem kleinen Balkon auf der dritten Ebene der Weißen Burg. Sitzende konnten nicht nur Räume mit großen Fenstern verlangen, sondern auch mit Balkonen, etwas, das für gewöhnliche Schwestern nicht üblich war - auch wenn es nicht gänzlich unbekannt war. Der hier war wie ein kleines Türmchen geformt, eine stabile Steinmauer diente als Brüstung, von der Decke senkte sich eine ähnliche Mauer. Zwischen den beiden befand sich eine großzügige Lücke, und der Ausblick war sehr schön, nach Osten über die sich sanft erhebenden Hügel, die schließlich zu Brudermörders Dolch emporstiegen. An einem klaren Tag hätte man den Dolch in der Ferne durchaus sehen können.
Eine kühle Brise strich über den Balkon, und so hoch oben war sie frisch und unberührt vom Gestank der darunter liegenden Stadt. Zu beiden Seiten des Mauerwerks wuchsen Zankranken mit ihren dreizackigen Blättern und anschmiegsamen Reben, die sich ausbreitenden Ranken bedeckten die Innenseite des Mauerwerks und ließen es beinahe wie eine Ruine in der Tiefe eines Waldes aussehen. Die Pflanzen waren ein größerer Schmuck, als Egwene in den Gemächern einer Weißen erwartet hätte, aber Ferane sagte man einen Hauch Eitelkeit nach. Vermutlich gefiel es ihr, dass ihr Balkon so unverkennbar war, selbst wenn das Protokoll von ihr verlangte, die Reben zurechtzustutzen, um das funkelnde Profil des Turms nicht zu beeinträchtigen.
Die drei Weißen saßen auf Korbstühlen an einem niedrigen Tisch. Egwene saß vor ihnen auf einem Korbhocker, den Rücken der Öffnung zugewandt, sodass sie die Aussicht nicht genießen konnte, während sie für die anderen Nüsse knackte. Diese Arbeit hätte auch jeder Diener oder Küchenhelfer erledigen können. Aber es war auch genau die Art von Beschäftigung, mit der Schwestern die Zeit von Novizinnen füllten, die ihrer Meinung nach zu viel herumlungerten.
Egwene hatte das Nüsseknacken nur für einen Vorwand gehalten. Nachdem man sie den größten Teil einer Stunde ignoriert hatte, waren ihr da Zweifel gekommen, aber jetzt sahen alle drei Frauen sie an. Sie hätte ihrem Instinkt vertrauen sollen.
Ferane hatte die kupferfarbene Haut einer Domani und das dazu passende Temperament, was für eine Weiße seltsam war. Sie war klein, hatte ein apfelförmiges Gesicht und glänzendes schwarzes Haar. Ihr rotbraunes Kleid war hauchdünn, aber schicklich, mit einer breiten weißen Schärpe um die Taille, die zu ihrer Stola passte, die sie im Augenblick trug. Dem Kleid mangelte es nicht an Stickereien, und der Stoff schien vielleicht absichtlich eine Anspielung auf ihre Herkunft als Domani zu sein.
Die anderen beiden, Miyasi und Tesan, trugen beide Weiß, als befürchteten sie, dass sie mit Kleidern anderer Farbe ihre Ajah verraten würden. Diese Idee schien sich in letzter Zeit bei allen Aes Sedai immer mehr durchzusetzen. Tesan mit ihrem dunklen, zu Zöpfen geflochtenen und perlengeschmückten Haar kam aus Tarabon. Die Perlen waren weiß und golden und rahmten ein schmales Gesicht ein, das aussah, als hätte man oben und unten zugegriffen und fest
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