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Der aufziehende Sturm

Der aufziehende Sturm

Titel: Der aufziehende Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jordan
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zu verstehen. Leane trug noch immer das Kleid, in dem man sie gefangen genommen hatte, und es war noch nicht gereinigt worden. An jedem dritten Morgen zog sie es aus und benutzte den morgendlichen Eimer mit Wasser - nachdem sie sich mit einem feuchten Lappen ordentlich gewaschen hatte -, um das Kleid zu reinigen. Aber ohne Seife waren einem Grenzen gesetzt. Sie hatte ihr Haar geflochten, damit es wenigstens den Anschein von Ordentlichkeit erweckte, konnte aber nichts wegen ihrer zersplitterten Nägel unternehmen.
    Leane seufzte und dachte an die Vormittage, die sie damit verbracht hatte, verborgen vor allen Blicken nackt in der Zellenecke zu stehen und darauf zu warten, dass Kleid und Unterhemd trockneten. Nur weil sie eine Domani war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie gern ohne einen Fetzen Stoff am Leib herumstolzierte. Eine anständige Verführung verlangte Geschick und Subtilität; Nacktheit benutzte keines davon.
    Ihre Zelle war gar nicht so schlimm, was Zellen anging - sie hatte ein kleines Bett, Mahlzeiten, genug Wasser und einen Nachttopf, der jeden Tag ausgewechselt wurde. Aber sie durfte nie hinaus und wurde ständig von zwei Schwestern bewacht, die sie abgeschirmt hielten. Ihre einzige Besucherin war Egwene, wenn man einmal von jenen absah, die zu ihr kamen, um ihr Informationen über das Schnelle Reisen zu entlocken.
    Die Amyrlin saß mit nachdenklichem Gesichtsausdruck auf ihrem Hocker. Und sie war die Amyrlin. Es war unmöglich, sie als etwas anderes zu betrachten. Wie konnte eine so junge Frau das so schnell gelernt haben? Die aufrechte Haltung, die selbstsichere Miene. Bei Kontrolle ging es weniger um die Macht, die man hatte, sondern eher um die Macht, die man zu haben vorgab. Tatsächlich ähnelte es sehr dem Umgang mit Männern.
    »Habt Ihr ... etwas gehört?«, fragte Leane. »Was sie mit mir machen wollen?«
    Egwene schüttelte den Kopf. Die beiden Gelben Schwestern saßen in der Nähe auf einer Bank und plauderten miteinander, angeleuchtet von einer Lampe auf dem Tisch neben ihnen. Leane hatte keine der Fragen ihrer Kerkerwächter beantwortet, und das Burggesetz regelte die Befragung von Schwestern ausgesprochen streng. Man konnte ihr nicht schaden, vor allem nicht mit der Macht. Aber man konnte sie einfach hier allein verfaulen lassen.
    »Danke, dass Ihr mich immer am Abend besuchen kommt«, sagte sie und griff zwischen den Gitterstäben hindurch, um Egwenes Hand zu nehmen. »Ich glaube, ich schulde Euch meine geistige Gesundheit.«
    »Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte Egwene, aber ihre Augen zeigten einen Hauch der Erschöpfung, die sie zweifellos verspürte. Einige der Schwestern, die Leane besucht hatten, hatten die Prügel erwähnt, die Egwene als »Buße« für ihre Insubordination auferlegt bekam. Und trotz der Schmerzen besuchte sie Leane beinahe an jedem Abend in ihrer Zelle.
    »Ich werde Euch freibekommen, Leane«, versprach Egwene und hielt ihre Hand. »Elaidas Tyrannei kann nicht ewig andauern. Ich bin zuversichtlich, dass es bald damit ein Ende hat.«
    Leane nickte, ließ los und stand auf. Egwene griff nach den Gitterstäben und zog sich auf die Füße; die Bewegung ließ sie leicht zusammenzucken. Sie nickte Leane zum Abschied zu, dann zögerte sie und runzelte die Stirn.
    »Was ist?«, fragte Leane.
    Egwene ließ das Gitter los und betrachtete ihre Handflächen. Sie schienen mit einer reflektierenden wächsernen Substanz beschmiert zu sein. Stirnrunzelnd sah Leane die Gitterstäbe an und entdeckte entsetzt Egwenes Handabdrücke auf dem Eisen.
    »Was beim Licht ...«, sagte sie und stieß mit dem Finger gegen einen Eisenstab. Er verbog sich wie warmes Wachs am Rand eines Kerzenhalters.
    Plötzlich bewegten sich die Steine unter ihren Füßen, und sie fühlte, wie sie versank. Sie schrie auf. Von der Decke regneten auf einmal dicke, geschmolzenem Wachs ähnliche Tropfen und klatschten ihr ins Gesicht. Sie waren nicht warm, aber irgendwie flüssig. Sie hatten die Farbe von Stein!
    Von Panik ergriffen keuchte sie auf und stolperte, als ihre Füße immer tiefer in den viel zu glatten Boden einsanken. Eine Hand ergriff sie; sie schaute auf und sah, dass Egwene nach ihr gegriffen hatte. Die Gitterstäbe zerschmolzen einfach, das Eisen erschlaffte und verflüssigte sich dann.
    »Hilfe!«, schrie Egwene den Gelben zu. »Verflucht! Hört auf zu starren!«
    Entsetzt versuchte Leane Halt zu finden, versuchte sich an den Gitterstäben auf Egwene zuzuziehen. Sie bekam nur Wachs zu

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