Der Augenblick der Liebe
mitten in der Stadt, habe die Finger beider Hände in einander verschränkt, versuche, die in einander verhakten Finger zu lösen, er würde keine Luft mehr kriegen, wenn es ihm nicht gelänge, die Finger zu
lösen, die Leute gingen links und rechts an ihm vorbei, sahen
nicht, daß er am Ersticken war, daß sie zugreifen sollten, seine Hände auseinanderreißen, sie tatenʹs nicht, er erstickte
beziehungsweise erwachte. An Atemnot. Irgendwann zwang
er sich, die Augen zu öffnen, und stand sogar auf. Anna war
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schon wieder auf Tour. Sie hatte ein Blatt hinterlassen: Jetzt lies doch endlich einmal den Magda‐Brief. Der lag daneben.
Die Überschrift: Meinen Eltern.
Ich möchte euch besuchen. Ich habe per Internet gebucht.
Da ich das Häkchen schnelle Verbindungen nicht rechtzeitig
entfernte, tauchten die billigeren Angebote auf. RE (Eilzug).
Das heißt: statt 47 € nur 38 €. Und es dauert nur eine Stunde
länger. 6½ Stunden. 4mal umsteigen (Nürnberg, Augsburg, Buchloe, Lindau). Mit Kreditkarte gebucht. Für das Online-Ticket brauchte ich noch eine Zusatzzahl zur Kreditkartennummer. Dann hatte ich das Ticket in meinen Händen, eine
Seite voller Daten und Nummern. Bei der Fahrt muß die
Kreditkarte mitgeführt werden, sonst gilt das Ticket nicht.
Der Schaffner muß alle Zahlen in sein Lesegerät scannen, zur
Kontrolle. Aber im Chor hat doch eine von einem Bayern‐
Ticket geredet. Bis Lindau müßte das gehen. Und es ging.
Nur die Abreise eine Stunde später. Das Bayern‐Ticket gilt erst ab 9. Das Online‐Ticket stornierte ich. Am nächsten Morgen per e‐mail: die 38 € sind wieder auf meinem Konto.
Jetzt also das Bayern‐Ticket für 21 €. Und Lindau‐Überlingen
dann noch für ein paar Euro mehr. Das Bayern‐Ticket gibt es
nur per Post. Wenn es am Donnerstag eintrifft, bin ich am Freitag bei euch. Mit zweimal Bus werden es 7 öffentliche Verkehrsmittel, dauert 7 ½ Stunden und kostet keine 30 Euro.
Darauf freut sich eure Magda.
Als Gottlieb das gelesen hatte, wußte er wieder, daß Magda
ihn unter allen Umständen verstehen würde. Nur Magda
würde ihn verstehen. Es ging nicht um Billigung oder gar Zustimmung, sondern um Verständnis. Magda würde nicht
urteilen. Sie ließ einen andauernd spüren, daß man es ihr 239
nicht recht machen müsse. Nicht recht machen dürfe. Sie
begegnete einem in einer feierlichen Anspruchslosigkeit.
Nicht nur ihm, allen. Aller Welt wahrscheinlich.
Er wußte, er konnte gehen. Die kamen ohne ihn aus. Die hatten ihren Halt. Gut, Anna, die ungern rechnete, hatte ihm
noch als Hausaufgabe hingelegt, daß er umrechnen sollte,
wieviel 190 qm bei Dachschräge auf DIN ergäben. Er schriebʹs
dazu: 154 qm. Und rief noch am selben Tag in Chapel Hill an. Und hörte zu: All international circuits to the country you are calling are busy now, will you please try your call later. Wie oft würde er das noch schaffen, sich aufzuraffen zu
diesem Anruf?
Schon am nächsten Tag konnte er sich so konzentrieren,
daß der Anruf noch einmal möglich wurde. Und er kam
hinüber, kam nach Chapel Hill, aber Chapel Hill meldete: We are sorry, you have reached a number that IS no longer in
Service. Gleich noch einmal. The number you are calling ist not in Service at this time... Das war atemraubend. Das war,
als wäre er viel zu schnell bergauf gerannt. Es dauerte längere Zeit, bis er aus dem Japsen herauskam und ihm
wieder ein Atmen gelang, ein Durchatmen. Daß ihm das so den Kreislauf zerschlug, erschütterte ihn. Er hatte gedacht, er
sei Herr des Verfahrens, er könne planen, entscheiden und auf alles mögliche halbwegs klug und gefaßt reagieren. Und
jetzt erlebte er sich in reiner Atemnot! The number you are calling is not in Service at this time ...
Er mußte an diesem Abend trinken. Calvados. Mehr Calva‐
dos als Anna trank er. Zusammen tranken sie eine Flasche Calvados. Anna sagte: Unglaublich. Er sagte: Ich weiß. Aber,
sagte er, er sei in einer Not, die er Anna nicht enthüllen 240
könne. Er bat sie heftig, nicht nachzufragen, um welche Art
Not es sich handle. Eine Gesundheitsnot sei es keinesfalls.
Bitte, Anna, verschieb alle Fragen auf später. Er wirdʹs überleben. Dann ... nicht wahr. Annas Augen waren wieder
das Meer. Es war in diesen Augen keine Willensäußerung
sichtbar oder spürbar. Der reine Blick. Annas reiner Blick. Er
sagte: Anna, ich bin dir dankbar, wie ich dir noch nie dankbar war. Sie sagte eben nicht: Warum dankbar, sie
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