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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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nichts weh, wie sollst du dich dann damit
    abfinden, daß du nicht dreißig, nicht vierzig, nicht fünfzig, sondern mehr, mehr, mehr als sechzig bist! Da muß man sich
    doch falsch benehmen. Das heißt, du wirst mit siebzig so ungern sterben, als wärst du dreißig. Morgen weg. So
    ausgefüllt zu sein, unanfechtbar. Er war doch nicht Herr Pöhlmann‐Gschrey. Auf der Beuerlinshalde. Mit Seeblick,
    Weitblick, Alpenblick, hinauf ins Gipfelgewell. In die letzte Ecke des tannenreichen Grundstücks hatte Herr Pöhlmann-Gschrey Gottlieb gezogen und fiebrig dahingeredet, er
    müsse weg, die Frau wisse noch nichts, auf ihn warte, weit weg, das Neue Leben. Die Frau glaube, man ziehe gemeinsam auf die Kanaren. Er hat dieses Haus gebaut für seine Frau. Er hat berechnet, um wieviel Uhr die Sonne die Nasen-spitze der Frau trifft und sie weckt. Das ganze Jahr ist die Sonne im Dienst dieses Hauses, also der Frau. Dachwinkel, Firsthöhe, Tannen, die Sonne, alles dient der Frau des
    Hauses. Die zum Sofa gewordene Klosterbadewanne, der

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    gewaltige, unter der Decke schwebende Engel mit blutrot
    geblähtem Mantelfallschirm, Krippen, Dome, aus Streich‐
    hölzern gebaut, Schachtelhalme, Moschusochsen, Saurier‐
    skelette, der Palmenwald im Glashaus, die Frau wollte
    Einmaligkeit, jetzt muß er weg, ins Neue Leben. Als Gottlieb
    endlich einen gefunden gehabt hatte, dessen Frau wild
    darauf war, das alles zu besitzen, hatte Herr Pöhlmann‐
    Gschrey nicht verkaufen können. Nichts mehr gesagt, nur
    noch den Kopf geschüttelt und den lästigen Immobilien‐
    händler samt Interessentenpaar hinausgewinkt. Wäre Herr
    Pöhlmann‐Gschrey nicht leichenblaß gewesen, hätte seine
    zerbissene Unterlippe nicht gezeigt, daß sie gerade noch
    geblutet hatte, hätte man den Vorvertrag durch die Luft
    schwenken können. Das Neue Leben war aus Herrn
    Pöhlmann‐Gschrey entflohen, vertrieben. Und bevor Gottlieb
    und das Interessentenpaar sich fassen konnten, erschienen
    aus verschiedenen Partien des dämmrigen Wohnzimmers
    drei, vier, fünf Katzen und posierten sich um Herrn
    Pöhlmann‐Gschrey. Er hob die Arme wie ein Soldat, der sich
    ergibt. Seine Hände berührten fast den roten Mantel des über
    ihm schwebenden Engels. Jetzt bemerkte Gottlieb, daß der
    riesige Engel ein goldenes Schwert in der Rechten hatte. Kein
    riesiges, aber durch seinen Goldglanz Eindruck machendes
    Schwert. Also drehte sich Gottlieb schroff um. Das Interessentenpaar folgte. Vom Interessentenpaar nachher kein Vor‐
    wurf. Keine Diskussion über das Gesehene. Gottlieb hatte
    sich in einer an Herrn Pöhlmann‐Gschrey anschließenden
    Wortlosigkeit verabschiedet. Auf der Heimfahrt hatte er
    gedacht, daß die Katzen das Ausschlaggebende gewesen
    waren: Die hatten Herrn Pöhlmann‐Gschrey den Verkauf

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    verboten. Das konnte ihm nicht passieren. Er würde fahren.
    Morgen. Er erlebte ein Gesetz: Je heftiger du dich heim-sehnst, desto größer ist, wenn du heimkommst, die Enttäuschung. Nichts entspricht einander so innig wie Sehnsucht und Enttäuschung.
    Aber weil, wenn man in eine Richtung denkt, die Ge‐
    genrichtung immer auch noch existiert, war Gottlieb am
    nächsten Vormittag auf dem Weg in die Stadt, auf dem Weg
    zur Bank und hatte die vielen Dollars, die unverbrauchten, dabei. Umtauschen. Er würde umtauschen, als bliebe er hier.
    Er wird nicht hier bleiben. Aber umtauschen wird er.
    Wieviele Personen war er eigentlich! Er funktionierte. Er würde umtauschen. Und hier nicht bleiben. Niemals. Schon
    auf dem Weg zum Bus servierte ihm der Zufall, der nichts ausdrückt als das wirkliche Gesetz, ein Mädchen, das sechs oder sieben Altgewordene ausführte. Ein ungeheuer
    langsamer Trupp. Lauter finster zerstörte, vom bösesten Leid
    gezeichnete Gesichter und wie zur Drohung verschobene
    Körper. Weil es ein wenig aufwärts ging, mußte das Mäd‐
    chen den Trupp halten lassen, zurückgehen und eine win‐
    zige Greisin nachholen, die inzwischen nicht mehr als eins-zwanzig groß war, aber eine Tasche umgehängt hatte, die
    fast genau so groß war. Gottlieb hatte schon viel zu lange hingesehen.
    Im Bus sah er, um sicher zu sein, nur noch auf seine Knie.
    Kurz bevor er sich von der großen Drehtür in die Bank
    hineinholen ließ, der Notarztwagen. Zwei Männer in greller
    Berufskleidung schoben eine Tragbahre in den Wagen. Man
    sah nur noch die Schuhe des auf der Bahre Liegenden; sie starrten komisch in die Höhe. Gottlieb ging, so schnell er, 235
    ohne als

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