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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Kurz bevor ich nach Moskau flog, hatte ich an Amelias und Maria Luisas Grab gesessen und eine so heftige Trauer empfunden, als wären sie erst vierundzwanzig Stunden tot, aber sie konnten mir auch keinen Rat geben, und in der Sehnsucht lag keine Erleichterung. Es gab nur einen Zorn, der ebensosehr Verzweiflung wie Frustration über das Geschehene war. Ein Gefühl der Ohnmacht. Ein rasendes Gefühl gegen die Ungerechtigkeit des Lebens.
    Die Zöllnerin in der tristen grauen Uniform aus Hemdbluse und Rock warf nur einen Blick auf meinen Valutaschein, während meine Reisetasche durchleuchtet wurde. Sie hatte ihre Lippen und Nägel knallrot bemalt, und ihr Gesicht war verdrossen und ausdruckslos, als sie den Stempel heftig niederdrückte und mir Paß und Papiere zurückschob und nach denen des nächsten griff, ohne ihm in die Augen zu sehen. Ich trat in die dunkle Ankunftshalle und sah einen jungen Mann Ende Zwanzig mit Lederjacke in der wartenden Schar, der ein Pappschild hochhob, auf dem mit großen Buchstaben LIME
    stand. Er war ein glattrasierter Typ, der augenscheinlich häufig mehrere Stunden im Fitneßcenter zubrachte, aber ich sah, daß seine Körperkraft nichts Aufgepumptes war, sondern ziemlich echt. Den hätte ich ungern als Gegner gehabt.
    Er grüßte mit einem Nicken, nahm meine Tasche und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, daß ich ihm folgen solle. Sein schwarzer Mercedes parkte gleich vor der Halle. Die Kälte traf mich wie ein Hammerschlag. Ich trug nur Jeans und eine Lederjacke über einem Pullover, den ich für dick gehalten hatte. Es war eine trockene Kälte, und die Luft war schwer von Diesel und Benzin. Die Autos hielten im Leerlauf, und die Auspuffgase wirbelten im Wind. Er öffnete mir den Schlag, und ich setzte mich dankbar auf die Rückbank des warmen Autos.
    Der junge Mann setzte sich neben den Fahrer, und das Auto glitt fast lautlos vom Bordstein fort. Ich hörte nur das Gerassel der Spikereifen auf dem schlechten Asphalt. Der Mann drückte eine Nummer auf seinem Handy und sagte einen Satz auf russisch.
    Schuganow ließ sich fürstlich entlohnen, aber über seinen Service konnte man nicht klagen.
    Wir fuhren schnell, aber nicht waghalsig in die Stadt.
    Der Asphalt war uneben und ließ den Wagen vibrieren. Wir passierten ein Denkmal in Form einer Panzersperre. Daran konnte ich mich gut erinnern, aber eine moderne, hell erleuchtete Tankstelle mit einem McDonald’s war neu, so wie die alten Plakate mit dem sozialistischen Arbeiter, der den Plan übererfüllt, durch Werbung für Sony und IBM ersetzt worden waren. Der Verkehr war dicht, aber fließend, bis wir das Zentrum erreichten, dort ging es nur noch im Schneckentempo vorwärts. Die Straße war einmal nach Gorki benannt gewesen, aber soviel Kyrillisch konnte ich, um zu erkennen, daß sie jetzt anders hieß. Die alten sozialistischen Länder hatten den Namen so schnell und problemlos ausgewechselt, daß man erwarten durfte, daß sie ihn ebenso gleichgültig wieder einsetzen würden.
    Die Straßen waren voller Fußgänger, die mit ihrer Atemluft wie mit einer weißen Fahne vorwärtshetzten. Erleuchtete Geschäfte, die ich nie zuvor gesehen hatte, waren mit Weihnachtsschmuck und künstlichen Tannenbäumen dekoriert. Aber in den massiven Gebäuden, die zwar modern westlich aufgeputzt waren, aber ihre sowjetische Schwerfälligkeit behalten hatten, erschienen die Geschäfte winzig. Am Bordstein lag der Schnee in Haufen, doch die Fahrbahn war geräumt. Im Scheinwerferlicht der Autos wirbelten einige Flocken. Kurz darauf tauchte vor uns die Außenmauer des Kreml auf, in Licht gebadet, auch er schwer und leicht zugleich. Dann fuhren wir am Hotel Intourist vor, in dem ich schon zweimal, Anfang der achtziger Jahre, gewohnt hatte – ein großer Betonwolkenkratzer am Rande des Revolutionsplatzes. Früher sind hier Autos herumgefahren, jetzt glich er einem Park, in dem Passanten spazierengingen.
    »Hier gibt es ein Shoppingcenter, Mr. Lime. Acht Stockwerke unter der Erde«, sagte der jüngere Mann auf englisch mit starkem Akzent. »Mein Name ist Igor.«
    »Hello, Igor«, sagte ich.
    Am Roten Platz war ein neues Tor errichtet worden.
    »Ja, Mr. Lime, das ist das wiederaufgebaute alte Kremltor.
    Stalin hat es abgerissen, um Platz für seine Panzer zu schaffen, wenn er Militärparaden veranstaltete. Stalin ist unter der Erde, das Tor wieder errichtet, und auch die Erlöserkirche steht wieder. Seit Sie das

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