Der Augenjäger / Psychothriller
mit ihrer Mutter in Hamburg, die Wunde ist gut verheilt und gegen ihren Vater läuft ein Verfahren wegen sexueller Nötigung und Kindesmissbrauchs. Kaum jemand erkennt das perfekt angepasste Glasauge in ihrem Gesicht.
Und wenn es Sie beruhigt – gestern war ich mit Julian in einer Tierhandlung. Dr. Roth meinte, ein Hund könnte eine therapeutische Wirkung haben, schließlich sei mein Sohn zu alt für Kuscheltiere, brauchte aber dringend etwas zum Liebhaben. Ich dachte an einen Welpen, einen Labrador oder Dalmatiner vielleicht, aber Julian, der nur mitgekommen war, weil Dr. Roth uns begleitete, überraschte uns mit seiner Entscheidung. Er wählte eine schwarze Ratte.
Ich war unschlüssig. Das Nagetier, das seinen elfenbeinfarbenen Schwanz um den Nacken meines Sohnes kräuselte, war nicht der Teddy-Ersatz, an den ich gedacht hatte.
»Haben Sie gesehen, wie Julian lachte, als er sie auf dem Arm trug?«, hat Roth mich gefragt. Tatsächlich war es nur eine Andeutung gewesen, ein Engelslächeln, wie man es von Babys in den ersten Wochen kennt. Unbewusst, aber immerhin ein Anfang.
»Die Zeit heilt alle Wunden«, zitierte Roth den Volksmund, als ich die Ratte samt Käfig, Streu und Futter auf dem Rücksitz meines Wagens verstaute.
»Nein«, widersprach ich. »Sie macht einen nur älter.«
Für eine Weile sah Roth so aus, als wüsste er nicht, ob er mich alleine lassen dürfe. Schließlich verabschiedete er mich mit den Worten: »Sie dürfen die Hoffnung nicht verlieren, Herr Zorbach. Sehen Sie sich Ihren Sohn an. Denken Sie an das zarte Lächeln eben im Laden, und Sie wissen: Das Gute überlebt am Ende immer. Es ist vielleicht momentan irgendwo tief unten im Steinbruch seiner Seele verschüttet. Aber es ist wie ein Fußball, den Sie unter Wasser drücken. Irgendwann schnellt das Gute an die Oberfläche zurück.«
Das war vor sechs Stunden. Mittlerweile hat Julians neuer Freund einen Namen. Mr. Jones schläft in seinem Zimmer in unserer neuen Wohnung in Pankow, der Käfig steht vor seinem Bett.
Ein Besucher, der einen flüchtigen Blick in unsere Wohnung wirft, würde ein ganz normales Familienstillleben sehen: kurz nach Mitternacht, der Vater steht in der Tür und beobachtet seinen schlafenden Sohn.
So friedlich. So normal. So falsch.
Ich bin mir nicht sicher, vielleicht hat Mr. Jones tatsächlich einen beruhigenden Effekt, sei es auch nur durch den Geruch, der mit ihm eingezogen ist, eine Mischung aus Holz, Erde und Heu. Mir scheint, dass Julian etwas gleichmäßiger unter seiner Decke atmet, aber das ist schwer zu sagen von meiner Perspektive aus im Halbdunkel des Flurs.
Ich schließe langsam die Tür, setze mich wie jede Nacht ins Wohnzimmer und warte.
Als es wieder so weit ist, bleibe ich noch eine Weile auf dem Sofa sitzen, um zu sehen, ob sich die Dämonen diese Nacht von alleine verabschieden.
Wie immer tun sie es nicht, und so gehe ich zum Schlafzimmer meines Sohnes zurück, der in seinen Alpträumen wieder und wieder den Namen seiner Mutter schreit.
Heute muss ich dabei an Dr. Roth denken. Ich hoffe so sehr, dass er recht behält. Dass am Ende das Gute wirklich überlebt.
Denn das Böse
… bin ich mir sicher, als ich Julians schweißnasse Stirn berühre und er weinend die Augen aufreißt …
das Böse tut es in jedem Fall.
Eine Stunde später. Julian ist wieder eingeschlafen, aber er stöhnt in seinen dunklen Träumen. Ich habe an seinem Bett gewartet, jetzt will ich das Zimmer verlassen, doch ein Rascheln lässt mich innehalten. Die Ratte in ihrem Käfig sieht mich an, als wolle sie mir ein Geheimnis verraten. Ich öffne den Gitterverschlag, und erstaunlicherweise rennt sie nicht weg, als ich nach ihr greife. Nur das Herz galoppiert wild unter dem warmen Fell.
Ich setze Mr. Jones auf das Kissen neben den Kopf meines Sohnes, wo er ruhig liegen bleibt, und sofort ärgere ich mich über diese Geste der Hilflosigkeit.
Schon strecke ich meine Hand aus, um das Tier wieder in den Käfig zurückzusetzen, da schlägt mein Sohn die Augen auf. Er blinzelt müde, sieht Mr. Jones und nickt mir zu. Sein Mund öffnet sich, als wolle er etwas zu mir sagen. Für einen kurzen Moment meine ich, ein geflüstertes »Danke« gehört zu haben.
Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet,
denke ich, während ich kurze Zeit später leise die Tür hinter mir schließe.
Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich täusche.
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Danksagung
E ine der häufigsten Fragen, die mir auf Lesungen
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