Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
In ihrer Jugend war meine Großtante Opernsängerin gewesen, doch als sie eines unglücklichen Tages ein ganzes Orchester verschluckte, war es aus mit ihrer Karriere. Sie bekam nirgends mehr eine Rolle. Kein Dirigent der Welt wollte das Risiko eingehen, plötzlich ohne Musiker dazustehen. Meine Großtante beendete also ihre Laufbahn und unterrichtete fortan Gesang. Sie hatte einen schwarzen, glänzenden Flügel mitten im Wohnzimmer stehen, auf dem sie ihre Schüler begleitete. Wenn sie selbst sang, spielte niemand auf dem Flügel. Sie spürte ja in sich das ganze Orchester, und das war ihr Begleitung genug. So konnte sie sogar Arien schmettern, wenn sie in der Metzgerei um Rinderhack anstand oder im Hallenbad auf eine freie Umkleidekabine wartete.
In meiner Familie gab es einige, die nicht nett über Großtante Lulu sprachen, aber ich mochte sie gerne. Als kleiner Junge legte ich oft meinen Kopf an ihren Bauch und lauschte, ob das Orchester etwas Schönes spielt. Meistens machte es gerade Pause, aber einmal hörte ich ganz deutlich Geigen, Klarinetten und eine Trommel.
„Tatsächlich?“, rief meine Großtante. „Dann ist es bestimmt die Ouvertüre, also das Vorspiel zur ‚Prinzessin der Nacht.’ Die üben sie zurzeit andauernd.“ Mir reichte das damals als Erklärung, denn dass die „Prinzessin der Nacht“ eine Oper war, wusste ich von einem der vielen Theaterzettel, die sich meine Großtante gerahmt an die Wand gehängt hatte. Später fragte ich mich manchmal, wo sie den Zettel eigentlich herhatte, denn dieses Werk war in keinem einzigen Musikführer verzeichnet.
Die Antwort fand ich erst in diesem Sommer. Großtante Lulu war im Alter von 107 Jahren verstorben, und ich suchte in ihrer Wohnung das zusammen, was vor dem Müllcontainer gerettet werden musste. Dabei rutschte mir ausgerechnet der Rahmen mit dem Theaterzettel der ‚Prinzessin der Nacht’ aus den Händen und fiel scheppernd zu Boden. Vorsichtig fischte ich den Zettel zwischen den Scherben hervor. Ich dachte an das kleine Orchester im Bauch meiner Großtante und las, was der Zettel versprach.
Versonnen wollte ich den Zettel schon weglegen, als ich bemerkte, dass die Rückseite ebenfalls beschrieben war. Warum hatte ich das nicht gleich gemerkt? Dabei begann der Text sogar mit einer recht groß gedruckten Null. Vielleicht war es aber auch ein O.
Wer war genervt? Ich kapierte nichts. Was war das für ein Text? Und warum brach er am Ende der Seite mitten im Satz ab? Merkwürdig ...
Wo war denn der Premierenhinweis geblieben? Dort, wo ich eben noch die Rollen und die Besetzung studiert hatte, stand jetzt ein ganz anderer Text. Und ― er führte die auf der Rückseite begonnene Erzählung fort. Das konnte doch gar nicht sein! Immer wieder wendete ich den Zettel. Und jedes Mal ging der seltsame Text weiter. Es war unglaublich. Ich musste lachen, so grotesk kam mir die Situation vor. Es konnte nur Einbildung sein. Ich schloss die Augen, wartete einige Sekunden und öffnete sie wieder. Noch einmal drehte ich den Zettel um. Es blieb dabei: Er erzählte eine Geschichte.
Nirgendwo sonst hätte ich so etwas für möglich gehalten. Nur in der Wohnung von Großtante Lulu, die zu jedem Biedermeiersessel und zu allen Rokkokofiguren ein Geheimnis aus der Vergangenheit anzudeuten wusste, konnte ich dem glauben, was ich sah.
„Bloß erzählen darf ich das keinem“, murmelte ich vor mich hin. Dann drehte ich im Schein des gläsernen Lüsters den alten Theaterzettel um. Wieder und immer wieder. Und las:
Skaia wusste, dass sie zu spät kommen würde. Die Stundenkugel an ihrer Halskette hatte sich schon feuerrot verfärbt. Als Skaia zu rennen begann, hüpfte die Kugel im Takt auf und ab, sprang ihr grell vor die Augen und schlug ihr hart auf die Brust. Genervt versuchte Skaia, das dumme Ding einzufangen. Doch das war schwierig im Laufen. Bis zur Eingangstür der Erziehungsanstalt bekam Skaia die Kugel nicht zu fassen, aber als sie die Treppen hinauf in den dritten Stock hetzte, hielt sie sie fest umschlossen in der linken Hand. In der rechten hing schwer die alte Tasche, vollgestopft mit Büchern, Heften, Stiften, Ordnern, einem Lineal, einem Zirkel, einer Rechenmaschine, einem Kompass, einem Diktiergerät, einem Lötkolben, einem Mikroskop mit drei Wechselobjektiven, 18 Tütchen mit Pflanzensamen und einer Brille, durch deren dunkelblaue Gläser man gefahrlos direkt in die Sonne blicken konnte. Garantiert würde sie im heutigen
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