Der Augensammler
flüsterte ich unwillkürlich und löste damit ein Missverständnis aus.
»Erstaunt es Sie, dass Blinde das Internet nutzen?« Sie lächelte nachsichtig. »Es gibt Programme, die uns die Seiten vorlesen, sofern sie richtig programmiert sind. Außerdem hat mein Computer eine Braille-Zeile, die den Text unter meinen Fingern in Blindenschrift umwandelt.« Alina tastete beim Sprechen den Couchtisch ab. Zuerst dachte ich, sie wollte einen weiteren Schluck Kaffee trinken, dann wurde mir klar, dass sie ihr Feuerzeug suchte. Ich reichte es ihr und wunderte mich, wie kalt ihre Fingerspitzen waren, als wir uns berührten. Ich selbst hatte das Gefühl zu glühen.
»Zurück zu Ihrem Patienten«, bat ich sie. Zurück zum Augensammler.
»Als er kam, sprach er kaum ein Wort«, sagte Alina und zog eine frische Packung Zigaretten aus ihrem Rucksack, der jetzt wieder zu ihren Füßen stand. Ihr Hund schien ähnlich interessiert wie ich zu beobachten, wie sie mit geschickten Handgriffen die Banderole entfernte, eine Zigarette aus der Packung schüttelte und sich ansteckte. »Er krächzte nur, sagte, dass seine Stimmbänder entzündet seien und er nicht reden dürfe. Aber ein größeres Problem sei sein Rücken. Er habe sich verhoben.« Unweigerlich drängte sich das schemenhafte Bild des Mannes vor mir auf, der einen reglosen Körper in ein Versteck trägt. Eine Rauchwolke waberte zu mir herüber und erinnerte mich an das nutzlose Entwöhnungspflaster auf meinem Arm, das ich jetzt nur zu gerne gegen eine echte Zigarette eingetauscht hätte.
»Ich ging ins Bad, um mir die Hände zu waschen, und als ich zurückkam, knallte ich mit dem nackten Fuß gegen eine schwere Blumenvase.«
Alina zog angestrengt an ihrer Zigarette. Irgendetwas irritierte mich an ihrer Mimik, doch in diesem Augenblick vermochte ich noch nicht zu sagen, was es war. »Ich war außer mir vor Schmerz«, fuhr sie fort. »Und gleichzeitig verstört. Denn mein Orientierungssinn hatte mich in meiner eigenen Praxis noch nie im Stich gelassen. Ich finde mich sozusagen blind darin zurecht.« Sie lächelte. »Heute frage ich mich, ob es ein Test war.« »Welcher Art?«
»Vielleicht wollte der Mann herausfinden, ob ich wirklich blind bin.«
Dann wäre der Täter völlig paranoid, dachte ich. Es gab ja bislang noch nicht einmal ein Phantombild von ihm und keinen einzigen Zeugen. Warum sollte der Augensammler ausgerechnet bei einer Blinden auf Nummer sicher gehen, wenn es noch nicht einmal einem Sehenden gelingen könnte, ihn zu identifizieren?
Als hätte sie meine Gedanken gehört, schob Alina eine weitere Erklärung hinterher.
»Allerdings passiert es recht häufig, dass Menschen, die mich noch nicht so gut kennen, unachtsam sind. Ich musste schon dreimal meine Putzfrau wechseln, weil sie sich nicht streng an meine Auflagen hielt, um Himmels willen nichts zu verstellen.«
Sie drehte den Kopf zu mir, und einen kurzen Augenblick lang wirkte es, als suche sie Blickkontakt.
»Ich wollte mir nichts anmerken lassen und unterdrückte den Schmerz«, fuhr sie fort. »Vermutlich habe ich schon in diesem Moment gespürt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt, und wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen.«
Sie seufzte, und ihre Augenlider begannen wieder unruhig zu flattern. »Zu Beginn der Shiatsu-Behandlung knie ich hinter dem Patienten, der im Schneidersitz vor mir auf einem Futon hockt. Aus dieser Position heraus stimuliere ich einen Meridian mit dem Ellbogen vom Nacken abwärts bis zu den Schultern.«
Ich grunzte zustimmend, daran konnte ich mich aus eigener, schmerzhafter Erfahrung noch erinnern. »Ziel dieser Massage ist es, Blockaden zu lösen und die Lebensenergie wieder frei fließen zu lassen. Bis heute belächeln viele diesen Ansatz, aber früher hat auch kaum einer an Akupunktur geglaubt, und heute zahlt es sogar die Krankenkasse.«
Die zahlen auch eine Wurzelkanalbehandlung, und trotzdem mache ich das nicht freiwillig.
»Wie dem auch sei, normalerweise muss sich der Patient danach auf den Rücken legen, und die eigentliche Massage beginnt.«
»Doch dazu kam es nicht?«
»Nein. Denn plötzlich fühlte ich etwas, was ich immer wieder in unregelmäßigen Abständen in meinem Leben durchlitten habe, nur dass es dieses Mal sehr viel schlimmer gewesen ist.«
»Was ist passiert?«
»Ich glaube, so muss es sich anfühlen, wenn man nach jahrelanger Dunkelhaft wieder ans Tageslicht kommt. Ich drückte seine Schulter, und auf einmal brannten
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