Der Augensammler
stroboskopartige Blitze in meinen Augen. Sie erzeugten ein Wechselspiel aus dunklen Fetzen und hellen Lichtflecken. Am Anfang war es so grell, dass ich zunächst mehr hörte, als dass ich etwas sah.« »Was hörten Sie?« »Eine Frauenstimme.« »Die Ihrer Mutter?«
»Nein, ich glaube nicht. So genau habe ich nicht darauf geachtet. Ich war viel zu entsetzt über die Empfindungen, die plötzlich über mich hereinbrachen.« »Was hat die Frau gesagt?«
Alina legte ihre Zigarette in den Aschenbecher und griff sich stattdessen den Kaffeepott. »Es war sehr merkwürdig. Ich glaube, sie telefonierte mit ihrem Mann, ich hörte ein elektronisches Piepen, so wie wenn ich mein Telefon auf laut stelle. Dann lachte die Frau und sagte: >Sorry, aber ich bin ein bisschen durcheinander. Ich spiele gerade Verstecken mit unserem Sohn. Und weißt du, was völlig verrückt ist? Ich kann ihn nirgends mehr finden.<« »Sie hat gelacht?«, fragte ich irritiert. »Ja, aber nicht fröhlich. Eher nervös und gekünstelt. So wie man lacht, wenn einem eigentlich zum Weinen zumute ist.«
»Wie hat ihr Mann reagiert?«
»Der war völlig panisch und sagte nur: >O Gott. Wie konnte ich nur so blind sein? Es ist alles zu spät.<« »Es ist alles zu spät?«
Sie nickte. »Und dann wurde er laut. Seine Stimme bebte vor Verzweiflung, als er sagte: >Geh auf gar keinen Fall in den Keller. Hörst du mich? Geh nicht in den Keller.<« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Das war der Moment, in dem die Lichtblitze nachließen und ich erste, schemenhafte Umrisse meiner Umgebung erkennen konnte. Sie müssen sich das Bild, das sich mir zeigte, wie ein überbelichtetes Foto vorstellen.«
Ich fragte mich, wie sie auf diesen Vergleich kam, als sie ungefragt die Antwort nachschob.
»So hat einmal ein Medium in einer Fernsehreportage seine Visionen beschrieben, und irgendwie habe ich verstanden, was es meinte.«
Ein Birkenscheit knackte hinter der Glasscheibe im Holzofen.
»Der Mann am Telefon sagte: >Geh nicht in den Keller«,
griff ich den Faden wieder auf, nachdem sie eine längere Pause gemacht hatte, in der sie sich nervös durch das Haar gefahren war.
»Das waren seine Worte.«
»Was geschah dann?«
»Dann drehte sich die Frau zu mir, und ich sah in die Augen meiner Mutter.«
»Sie drehte sich zu Ihnen?«, fragte ich verwirrt. »Ja. Das ist immer so, wenn es passiert. Ich weiß nicht, wieso, aber ich glaube, bei bestimmten, hochenergetisch aufgeladenen Menschen schlüpfe ich quasi durch die Berührung in sie hinein. Es ist, als ertaste ich ein dunkles Geheimnis ihrer Seele.«
Sie hatte sich beim Sprechen etwas von mir abgewandt und schien aus dem Fenster zum See zu schauen. Ich folgte ihrem leeren Blick in die Dunkelheit.
»Also haben Sie Ihre Vision mit den Augen des ...« Ich zögerte und konnte für eine Sekunde selbst kaum glauben, dass ich eine so verrückte Frage stellen wollte. Sie nutzte die Pause, um meinen Satz zu ergänzen: »Ja«, sagte sie und wandte den Kopf wieder zu mir. »Ich war der Augensammler. Alles, was von da an passierte, sah ich mit seinen Augen.«
In diesem Moment traf eine größere Welle den Rumpf des Schiffes und ließ den Kaffeelöffel in ihrer Aluminiumtasse klappern.
Die Öllampe flackerte durch den Wind, der sich pfeifend seinen Weg durch die Ritzen des Sprossenfensters gesucht hatte.
»Was geschah dann?«, fragte ich, als die Böe abgeflaut war.
Alina sprach jetzt schneller, als müsse sie sich von einer Last befreien.
»Ich bemerkte, dass ich hinter einer Holztür stand, die nicht verschlossen war, und dass ich die ganze Zeit schon durch den Türspalt in das Zimmer gestarrt hatte, in dem die Frau telefonierte.«
»Was tat sie als Nächstes?«
»Das, was ihr Mann ihr verboten hatte.«
Geh nicht in den Keller.
»>Schatz, du machst mir Angst<, sagte sie noch und machte einen Schritt auf die Tür zu, hinter der ich stand. Dann geschah das Entsetzliche.«
Unter Alinas geschlossenen Lidern rollten die Augäpfel umher. TomTom hob den Kopf und spitzte die Ohren, als habe die innere Unruhe seiner Besitzerin sich auf ihn übertragen.
»Ich sprang hinter der Tür hervor und schlang ihr ein Kabel um den Hals. Sie erstarrte vor Schreck.«
Alinas Stimme klang belegt. Sie zog die Nase hoch, bevor sie leise flüsterte: »Dann brach ich ihr das Genick.« Unbewusst hielt ich die Luft an, und auch Alina schien außer Atem, als sie sagte: »Es gab ein Geräusch, als hätte ich ein rohes Ei zerdrückt. Sie war sofort
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