Der Augensammler
Manchmal kann ich in die Vergangenheit eines Menschen sehen, wenn ich ihn berühre.« Aha.
Diesmal hatte ich mich und meine Stimme im Griff. Sie klang völlig neutral, als ich sie fragte: »Und gestern war es wieder so weit?«
Sie nickte. »Gestern sollte ich diesen Mann massieren, aber ich musste abbrechen. Denn kaum hatte ich ihn angefasst, durchzuckte es mich wie ein Blitz. Es wurde hell, heller als jede meiner Erinnerungen an die Bilder aus der Zeit vor dem Unfall, der mir das Augenlicht nahm.« Sie räusperte sich.
»Und dann war der Blitz weg, und ich sah, was er getan hatte. Mit dem Kind, das schon betäubt war, und mit der Frau.«
Sie hob den Kopf, und ich hatte das unwirkliche Gefühl, dass sie durch mich hindurchsah.
»Scheiße, ich habe gesehen, wie er ihr das Genick bricht.«
68. Kapitel
Sie haben es gesehen?«
Der Ofen verbreitete eine heimelige Wärme, und ich stellte zu meiner Verwunderung fest, dass ich mir die schneidende Kälte zurückwünschte, die mich beim Betreten des Bootes empfangen hatte. Jetzt war mir heiß, der Hals kratzte, und zu allem Überfluss spürte ich einen leisen Druck hinter der linken Schläfe, Anzeichen einer beginnenden Migräne.
Alina nickte. »Wie schon gesagt, ich bin nicht von Geburt an blind. Wäre ich das, hätte ich keinerlei Vorstellungen von Licht, Farbe und Formen. Und in meinen Träumen gäbe es auch keine Bilder, sondern nur Gerüche, Geräusche und natürlich Gefühle.«
Verwundert stellte ich fest, dass ich mir noch nie darüber Gedanken gemacht hatte, wie Blinde träumen. Und mir wurde klar, dass Menschen, die noch nie etwas gesehen hatten, in einer ganz anderen Welt leben mussten als ich. Wenn ich jetzt meine Augen schlösse und dem Wind, den Wellen und den Geräuschen der Äste lauschte, die von außen gegen das Hausboot schlugen, hätte ich trotz der Dunkelheit eine klare Vorstellung von dem Wasser, den Bäumen im Wald und der Form des alten Ledersessels, auf dem ich Platz genommen hatte. Mein Gehirn würde die Bilder, die es jetzt nicht mehr sah, durch Erinnerungen ersetzen. Erinnerungen an eine Realität, die einem Geburtsblinden selbstverständlich fehlten und die er sich nie aneignen konnte. Ich wandte mich von Alina ab, fokussierte mehrere Schmelzwassertropfen auf der Fensterscheibe und fragte mich, wie man einem Blinden Schnee erklären könnte, wenn für diesen noch nicht einmal das Wort »weiß« eine Bedeutung hatte. »Aber es gab ja einmal eine Zeit, in der ich sehen konnte.« Sie riss mich aus meinen Gedanken. »Auch wenn diese zwanzig Jahre zurückliegt und meine Erinnerungen daran verblassen - wie das Gesicht meines Bruders oder die Aussicht aus unserem Küchenfenster, durch das ich immer geschaut hatte, wenn es regnete. Ja, selbst an den Regen kann ich mich nicht mehr erinnern oder an die Pfützen, in die ich so gerne gesprungen bin.«
Sie machte eine kurze Pause, in der sie nach der Kaffeetasse tastete, die bislang unberührt zwischen uns auf dem Couchtisch gestanden hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie den Henkel gegriffen und den Becher zum Mund geführt hatte. Dort hielt sie die Tasse am Kinn und sprach weiter, ohne einen Schluck zu trinken.
»Das einzige Bild, das sich mir unauslöschlich eingebrannt hat, ist das meiner Eltern. Es sind die einzigen Gesichter, die ich wohl niemals vergessen werde, und dafür bin ich dankbar und wütend zugleich.« »Wütend?«
Alina wirkte abwesend, als sie mir antwortete. »In meinen Träumen und Visionen sehen alle Menschen gleich aus. Sie alle tragen die Gesichtszüge meiner Eltern. Und das ist sehr belastend, das können Sie mir glauben. Denn meistens habe ich Alpträume. Ich sehe so schreckliche Dinge, danach bräuchten normale Menschen eine Psychotherapie.« Endlich nahm sie einen großen Schluck und seufzte leise. »Es ist eine Sache, wenn Sie davon träumen, wie ein Mann einer Frau eine Plastiktüte über den Kopf zieht und ihr beim Ersticken zusieht. Richtig übel wird es erst, wenn die Frau, der die Augen aus den Höhlen treten, die gierig die Luft nach innen saugt, aber nur Plastik im Mund schmeckt ...« Sie schluckte. »Wenn diese Frau die liebevollen Augen und den warmen Mund ihrer Mutter hat, der jetzt verzweifelt um Gnade fleht. Doch der Mörder wird niemals die Drahtschlinge, mit der er die Tüte um den Hals festgezogen hat, lösen, denn er ist ein geisteskranker Sadist. Und das, obwohl er genauso aussieht wie mein Vater, der mich morgens immer zum Kindergarten gebracht und
Weitere Kostenlose Bücher