Der Augensammler
nicht?«, hakte ich nach einer Weile nach. »Seitdem ich drei bin, seit dem Unfall, der mich erblinden ließ, habe ich darum gekämpft, nicht wie eine Behinderte behandelt zu werden.« Sie seufzte.
»Damals lebten wir in den USA, in Kalifornien, wo mein Vater als Bauingenieur auf Großbaustellen arbeitete. Er war ein sturer Deutscher, der eine noch sturere russischstämmige Amerikanerin geheiratet hatte. Beide weigerten sich, mich auf eine Sonderschule zu schicken, nur weil ich nichts mehr sehen konnte. Es dauerte ein halbes Jahr, bis meine Eltern endlich die Erlaubnis bekamen, dass ich gemeinsam mit meinen sehenden Freunden auf die Hillwood Elementary gehen durfte.«
Sie lachte leise, während ich die Finger ineinander verschränkte, mit denen ich sonst ungeduldig auf die Polsterlehnen getrommelt hätte. Erst mit einiger Verzögerung wurde mir klar, wie unsinnig meine Befürchtungen waren, sie könne mir anmerken, dass ich vor Ungeduld platzte. »Das Kopf-durch-die-Wand-Syndrom haben sie mir übrigens vererbt«, sagte sie mit einer ausladenden Handbewegung, die wohl andeuten sollte, dass sie kaum hier wäre, wenn sie sich nicht immer wieder in waghalsige Abenteuer stürzen würde.
»Ich bin das, was Psychologen eine Extremblinde nennen. Hab mir schon früh das Fahrradfahren beigebracht, bin, sooft es ging, ohne Stock und nur mit Hund gelaufen, und letztes Jahr war ich sogar Skifahren. Scheiße, ich pack mich immer wieder auf die Schnauze, nur damit ich nicht wie eine Aussätzige behandelt werde. Und jetzt passiert mir dieser Mist hier.«
Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und presste die Augenlider fest zusammen.
»Es hat nichts damit zu tun, das ich blind bin, okay? Ich habe früher immer wieder versucht, mich jemandem anzuvertrauen. Meinen Eltern, meiner Großmutter, meinem Bruder. Doch nie hat mir jemand geglaubt. Meine Freunde dachten, ich wolle sie veralbern, und meine Mutter machte sich große Sorgen und schickte mich zum Kinderpsychologen. Den hab ich dann angelogen. Hab ihm gesagt, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe, um mich wichtig zu machen. Scheiße, ich bin als Blinde schon genug stigmatisiert. Ich wollte nicht auch noch als verrückt gelten und habe von da an nie wieder mit jemandem darüber gesprochen.«
»Worüber?«, drängte ich sie nun doch. »Ich habe fast zwanzig Jahre geschwiegen, ja? Und ich hätte sicher auch noch weitere zweihundert Jahre mein Maul gehalten, wenn es nicht um die Kinder gehen würde.«
Wieder war der Punkt erreicht, an dem eine Zwischenfrage den Redefluss eher bremsen als fördern würde. »Ich habe eine Gabe.«
Ich hielt die Luft an. Zwang mich, nicht dazwischenzuplatzen.
»Ich weiß, wie irre sich das anhört. Ich bin selbst keine Esoterikerin. Aber es ist nun mal so, wie es ist.«
Was für eine Gabe?, dachte ich.
»Ich kann in die Vergangenheit sehen.«
»Bitte was?«
So viel zu meiner Selbstbeherrschung. Ich ärgerte mich, dass ich den Mund aufgemacht hatte, und rechnete damit, dass ich den Moment zerstört hatte und sie sich wieder verschließen würde. Aber sie lachte nur resigniert auf. »Ja, das sind die Momente, in denen ich wirklich gerne mal wieder sehen könnte. Nur, um Ihren Gesichtsausdruck zu studieren. Ich wette, Sie betrachten mich gerade, als wäre ich eine Außerirdische.«
»Tue ich nicht«, log ich, schüttelte ganz langsam den Kopf und bat sie fortzufahren.
»Als Physiotherapeutin habe ich mich auf Shiatsu spezialisiert.«
Shiatsu?
Ich erinnerte mich dunkel an die Massage, die Nicci mir zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ich hatte mich auf kräftige Hände gefreut, die mich mit duftenden Ölen und Cremes einrieben und mir bei sanfter Chillmusik die Verspannungen aus dem Nacken kneteten. Stattdessen hatte ich mich auf dem harten Fußboden einer asiatischen Gemeinschaftspraxis wiedergefunden. Eine knöchrige, alte Chinesin begann meine Extremitäten in jede noch so absurde Stellung zu verrenken und bestimmte
Punkte meines Körpers so fest zu drücken, dass mir das Wasser in die Augen trat. Für die energetische Druckpunktmassage benutzte sie nicht nur die Finger, sondern den gesamten Körper, also Knie, Ellbogen, Fäuste und sogar das Kinn. Das alles ließ mich eher gezerrt als entspannt zurück. Am Ende war ich mir sicher, nur knapp einer Querschnittslähmung entgangen zu sein. »Es passiert mir nur sehr selten, und ich habe bis heute nicht herausgefunden, bei wem oder wann es geschieht. Fakt ist:
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