Der Augensammler
abends eine Gutenachtgeschichte erzählt hat.«
Ich spürte einen Kloß im Hals und räusperte mich. »Aber es war kein Traum, der Sie hierhergeführt hat?«, fragte ich vorsichtig.
»Nein.« Sie stellte den Becher zurück auf den Tisch. »Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Vielleicht eine Vision. Oder eher noch eine Rückblende.« Rückblende?
»Woher kennen Sie den Begriff?«
»Es mag Sie verwundern, Herr Zorbach, aber ich habe einen Fernseher. Und ich benutze ihn sogar, obwohl das immer mühsamer wird. Früher konnte ich einem Tatort noch ganz gut folgen, aber jetzt höre ich in den ersten zehn Minuten immer nur Musik und Geräusche. Ich glaube, die Filme werden immer optischer, kann das sein?« Möglich. Auch darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht.
»Deshalb lade ich häufig John ein, einen alten amerikanischen Freund, der wie ich seit vier Jahren in Berlin lebt. Er ist leider schwul, also läuft da nichts im Bett, aber wenigstens kann er sehen. Und er erklärt mir immer, was passiert. Von ihm weiß ich, dass bei Filmen manchmal in der Handlung zurückgesprungen wird. Die Farbe des Bilds verändert sich, alles läuft langsamer ab. Und manchmal ist es nur ein kurzer Blitz, ein Flashback, habe ich recht?« Ich grunzte zustimmend.
»Solche Flashs kenne ich übrigens auch aus erster Hand.« Ich zog die Brauen hoch. »Sie nehmen Drogen?« »Selten.«
Sie deutete auf ihre Augen. »Einige Blinde gehen zum Therapeuten, die meisten versuchen, alleine klarzukommen. Ich lenke mich meistens mit Männern ab, aber einmal, als auch das nicht funktioniert hat, habe ich auf ein altbewährtes tiefenpsychologisches Medikament zurückgegriffen.« Ich lachte und gab ihr zu verstehen, dass ich verstand, was sie mir sagen wollte. Ich hatte vor Monaten einen Artikel über die Geschichte von LSD geschrieben. Das Halluzinogen war Mitte des letzten Jahrhunderts für die psychiatrische Behandlung auf den Markt gebracht worden. Erst in den siebziger Jahren wurde die Gefährlichkeit erkannt und weitere Forschung verboten.
»Ich weiß jetzt, was Sie denken«, sagte sie lächelnd. »Kein Wunder, dass die Alte Gespenster sieht, wenn sie sich regelmäßig die Birne zudröhnt. Aber harte Sachen nehm ich nicht mehr, und in den letzten Wochen hab ich nicht mal einen Joint geraucht. Trotzdem weiß ich, wovon ich rede. Als ich gestern den Augensammler behandelt habe, hatte ich einen Flashback.«
Sie tippte sich an die Stirn. »Ich war in ihm drin. In seinem Kopf. Und ich habe gesehen, was er getan hat.« Ich beugte mich nach vorne und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Meine Instinkte rieten mir, das Gespräch an dieser Stelle abzubrechen. Doch ihre wenigen Worte hatten mehr als nur meine journalistische Neugier geweckt.
In meiner Reporterlaufbahn hatte ich es schon häufiger mit extremen Interviewpartnern zu tun gehabt, kein Wunder, hatte ich mich doch auf ungelöste Gewaltverbrechen spezialisiert. Ich hatte mit psychisch gebrochenen Opfern gesprochen, mit geistig verwirrten Triebtätern, die ihre Unschuld beteuerten und mich baten, ich solle die Stimme in ihrem Kopf verhaften. Ich hatte sogar mal einen kleinen Jungen im Krankenhaus interviewt, der der Meinung war, er wäre in einem früheren Leben ein Serienmörder gewesen. Zur Bestürzung seines Anwalts bewies der Zehnjährige seine krude Behauptung sogar in der Realität, indem er die Polizei zu Fundorten von Leichen führte, zu Menschen, die auf exakt die Art und Weise ermordet worden waren, wie das Kind es zuvor beschrieben hatte. Zum Leidwesen von Nicci war dabei allerdings nichts Übersinnliches im Spiel gewesen. Und so war ich mir sicher, dass es auch für Alinas phantastische Behauptungen eine logische Erklärung gab.
So wie es eine Erklärung dafür geben musste, weshalb ich die Stimmen im Polizeifunk hörte. Wieso meine Brieftasche am Tatort gefunden worden war. Und weshalb jemand unter meinem Namen die blinde Zeugin zu mir in den Wald gelockt hatte.
Am wahrscheinlichsten war, dass sie log oder an einer Geisteskrankheit litt. Zum Beispiel an Schizophrenie?
»Als Sie den Augensammler behandelt haben, Alina«, setzte ich das mysteriöseste Interview meines Lebens fort, »was genau haben Sie da gesehen?«
67. Kapitel
Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl. Der Mann nannte sich Tim und hatte sich anonym über das Kontaktformular auf meiner Homepage angemeldet.« Tim? Ich spürte, wie mein Magen sich verkrampfte. »Das kann nicht sein«,
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