Der Augensammler
Brieftasche heute gefunden. Deinen Ausweis gesehen.«
Ich nickte. Nicht, um ihm zuzustimmen, sondern weil sich auch in meinem Kopf die Puzzlesteine langsam zusammenfügten.
Jetzt wusste ich, weshalb mich die kichernde Frauenstimme schon auf der Terrasse so beunruhigt hatte. Weshalb mir Traunsteins Persönlichkeit so bekannt vorkam, obwohl ich dem Mann noch nie in Fleisch und Blut gegenübergestanden hatte. Aber das war auch nicht nötig, denn er war mir in so vielen Erzählungen beschrieben worden, dass ich ein facettenreiches negatives Bild von ihm in meinem Kopf abgelegt hatte, das in allen Details mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Selbst seine unflätige Wortwahl war mir vertraut.
»Lucia war eine dreckige Hure. Die Drecksbälger sind nicht von mir.«
»Scheiße, du bist der Zeitungsfuzzi, der schon mal eine Frau erschossen hat. Und jetzt hast du meine auf dem Gewissen!«
Traunstein stand jetzt so nah vor mir, dass ich seinen faulen Atem riechen konnte, eine Mischung aus Whiskey und Zigaretten.
»Du warst es. Du hast es getan.«
Ich wich zurück, und der Blick auf die Leinwand brachte mir das letzte Fünkchen grässlicher Gewissheit. Ihr Bild war bislang nicht veröffentlicht worden. Vielleicht, weil die Fotos ihrer entführten Kinder aufmerksamkeitsstärker waren und die Presse sich das Foto der Frauenleiche noch für die Tage aufheben wollte, in denen es keine neuen Informationen über den Augensammler gab. Vielleicht war es mir aber auch einfach nur entgangen, schließlich war ich in den letzten Stunden von der Bildfläche verschwunden gewesen.
Verdammt, ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Die Frau war aus der Wanne gestiegen. Ihre langen, hochgesteckten Haare hatten sich wieder gelöst und fielen ihr nach vorne über die kleinen Brüste, und als sie in die Kamera lachte, presste die Faust der Erkenntnis jegliche Freude aus meiner Seele.
Bitte, lieber Gott, lass es nicht wahr sein, dachte ich und begriff, weshalb sie auf meine Anrufe nicht reagiert hatte. Wir würden uns nie wieder in zweifelhaften Etablissements verabreden können, nie wieder unsere intimen Gespräche fortsetzen.
Uns nie ineinander verlieben.
Ich wollte gleichzeitig weinen und schreien, doch ganz gleich, was ich tat, es würde nichts daran ändern. Charlie war tot.
Und ich würde ihr bald folgen, wenn mich die Kugel aus der Waffe traf, die ihr Ehemann gerade auf mich richtete.
57. Kapitel
(Noch 9 Stunden und 17 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Philipp Stoya (Leiter der Mordkommission)
Hohlfort war in seinem Element. Er lächelte wieder sein selbstgefälliges Talkshowgrinsen und schien trotz seiner Behinderung ein durch und durch glücklicher Mensch zu sein. Glücklich darüber, unerfahrene kleine Polizisten mit seinen Theorien über Motive und Tathergang vertraut zu machen. Stoya fragte sich, ob auch er irgendwann die Zeit und Ruhe finden würde, um seine beruflichen Erfahrungen in einem Buch ausschlachten zu können. Jeder Idiot schrieb heutzutage eine Biographie, gab Autogrammstunden auf der Buchmesse und hielt seine Fresse in die Kamera. Warum sollte es nicht auch ihm vergönnt sein, sein Gehalt und nicht zuletzt sein Ansehen in der Öffentlichkeit etwas aufzupolieren, sobald er den Mist hier hinter sich gelassen hatte?
»Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass es in der Prägungsphase des Mörders ein Schlüsselereignis gab, vermutlich ein traumatisches Erlebnis. Häufig wurde der Täter als kleines Kind gequält, misshandelt oder missbraucht.«
»Na klar, der Augensammler ist das eigentliche Opfer. Die Standardausrede jedes Verbrechers«, höhnte Scholle. Er war aufgestanden, um die Heizung etwas niedriger zu drehen. In dem fensterlosen Besprechungszimmer des Reviers war es fast unmöglich, die richtige Temperatur einzustellen. Im Sommer sorgte die nachträglich eingebaute Klimaanlage für Schüttelfrost, und im Winter bekam man in den überheizten Räumen Kopfschmerzen. »Richtig, fast jeder Straftäter stammt aus problematischen Verhältnissen, und deshalb hilft uns diese allgemeine Erkenntnis auch nicht viel weiter.« Hohlfort griff nach seiner Aktentasche, die er neben dem Rollstuhl abgestellt hatte, und stellte sie sich auf den Schoß. Mit schnellen Handgriffen hatte er sie geöffnet und eine dicke Handakte hervorgezogen, die er jetzt aufgeschlagen vor sich auf den Tisch legte. »Aber zum Glück geben uns diese Verstümmelungen wichtige Anhaltspunkte.«
Er drehte die Akte so, dass
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