Der Augensammler
weitere Lichtquelle.
Ich konnte noch nicht einmal erkennen, ob es Zuschauer gab, die auf einem der U-förmig angeordneten Sofas Platz genommen hatten, um ...
... ja, um was zu sehen?
Ich kniff die Augen zusammen, doch die Leinwand über dem Kamin blieb grau. Bis eben noch hatte sie einen schlecht ausgeleuchteten Schwarzweißfilm gezeigt: verwackelte Bilder, auf denen man nur mit einiger Phantasie ein geräumiges Badezimmer mit zwei Waschbecken, einem Klo nebst Bidet und Duschkabine ausmachen konnte. Doch dann hatte jemand, absichtlich oder aus Versehen, etwas vor die Linse der Kamera gelegt, vermutlich ein Handtuch, jedenfalls war das Badezimmer verschwunden, weshalb Traunsteins Wohnzimmer jetzt wieder in Dunkelheit lag.
Ich überlegte gerade meine nächsten Schritte, als ich das Kichern hörte. Es war sehr verrauscht und durch das verschlossene Fenster gedämpft, aber immer noch laut genug, um völlig unpassend zu wirken; Lachen gehörte hier nicht hin, nicht in das Wohnzimmer eines Mannes, dessen Frau ermordet und dessen Kinder entführt worden waren und dem nur noch wenige Stunden Zeit blieben, um sie lebend wieder zurückzubekommen.
Der Projektor schoss wieder einen helleren Lichtstrahl auf die Leinwand, und jetzt beschränkte sich der unsichtbare Kameramann nicht mehr nur auf die leblosen Badezimmerarmaturen. Das Handtuch war verschwunden und der neue Aufnahmewinkel so eingestellt, dass eine Eckbadewanne zu sehen war, in der eine Frau mit dem Rücken zur Kamera gewandt saß und sich die Haare hochsteckte. Bevor ich erkennen konnte, was mich an diesem Bild so beunruhigte, schob sich ein nackter Männerhintern ins Bild und verdeckte fast das gesamte Sichtfeld. Das Kichern, das eben schon leicht frivol geklungen hatte, bekam einen eindeutigen Unterton, als der Mann sich an die Badewanne stellte und die Schultern der Frau zu massieren begann.
Seine leicht nach vorne gebeugte Körperhaltung ließ vermuten, dass er sich nicht mit den Schultern begnügte. Auf einmal fühlte ich mich schmutzig, wie ein Voyeur, der in die Intimsphäre eines Fremden eingedrungen war und kurz davor stand, eine Schwelle zu überschreiten, die eine Rückkehr in ein anständiges Leben unmöglich machte. So schäbig hatte ich mich schon einmal gefühlt, unmittelbar vor der Hochzeit, als Nicci unglaublich viele Überstunden machen musste und in mir eine irrationale Angst gewachsen war, sie könne eine Affäre haben. Meine Version von Torschlusspanik. Damals hatte ich das Handy, das sie über Nacht immer auf dem Schuhschrank im Flur ablegte, bereits in der Hand gehabt. Ich wusste nicht, was mich schließlich doch davon abgehalten hatte, ihre SMS durchzusehen. Heute, Jahre später, war ich froh, es nicht getan zu haben, auch wenn ich den leisen Zweifel an ihrer Treue nie hatte abschütteln können. Ich war anständig geblieben, und das war mir viel wichtiger. Umso mehr war ich nun peinlich berührt davon, dass ich am Tatort einer Familientragödie durch ein Wohnzimmerfenster spannte und den Hausherrn dabei ertappte, wie er sich einen privat gedrehten Pornofilm auf einer Großbildleinwand ansah. Auch wenn ich Traunstein bislang nicht entdeckt hatte, so war ich mir doch sehr sicher, dass die halbleere Flasche Bourbon auf dem Glastisch neben dem Ledersessel ebenso zu ihm gehörte wie der überquellende Aschenbecher daneben.
Ich ging zu der Terrassentür und blieb unschlüssig vor ihr stehen. Zögerte, so wie damals, als ich kurz davor gestanden hatte, Niccis Handy aufzuklappen und nach dem Mitteilungsmenü zu suchen. Doch heute, so wusste ich, würde ich einen Schritt weiter gehen.
Mag sein, dass es nur die Hirngespinste einer Blinden sind, die mich hierhergeführt haben, dachte ich, während ich die Hand ausstreckte. Mag sein, dass Alina einfach nur verschroben ist und der Vater nichts mit dem Verschwinden seiner Kinder zu tun hat.
In der festen Erwartung, dass die Tür verschlossen sein würde, drehte ich den kalten Messingknauf.
Aber irgendetwas ist hier faul.
Dann, als die Tür zu meinem Erstaunen nachgab und lautlos ins Wohnzimmer hineinschwang, schob ich noch eine billigere Ausrede für meine Neugier hinterher: Und ich wäre ein schlechter Journalist, wenn ich den Dingen nicht auf den Grund gehen würde.
58. Kapitel
Ich hatte Thomas Traunstein in dem Moment erkannt, in dem er sich zu mir herumdrehte. Er trug den gleichen Anzug, in dem er gestern Nachmittag vor die Presse getreten war, um die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche
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