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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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modernster Krankenhaustechnik, weil sie zu blöd zum Niesen war. Wie beruhigend. Sie war einfach fällig gewesen.
    Heute, fünfeinhalb Jahre nach dem Unglück, lag sie in der klinischen Abteilung eines Privatpflegeheims. Ihr Einzelzimmer sah aus wie ein Showroom für intensivmedizinischen Hightech-Bedarf. Die medizinisch korrekte Bezeichnung ihres Zustands lautete apallisches Syndrom. Wachkoma. Wann immer ich sie besuchte, war ich versucht, das Klemmbrett am Fußende ihres Bettes abzureißen, die Diagnose durchzustreichen und stattdessen »gestorben« in die Spalte zu schreiben. Denn das war sie für mich: tot. Es mochte ja sein, dass meine Mutter noch Wach- und Schlafphasen durchlebte und die Organe dank dem Aufgebot an Pillen, Infusionen, Schläuchen und Geräten ihren Dienst nicht aufgegeben hatten. Für die Ärzte, Pfleger und Schwestern konnte das gerne die Definition von Leben erfüllen. Für mich aber war sie am zwanzigsten Mai vor fünfeinhalb Jahren in unserer Küche gestorben. Und ich wusste, dass sie es genauso sehen würde, wenn ihr Verstand noch zu einem einzigen klaren Gedanken fähig wäre.
    »Versprich mir, es nie so weit kommen zu lassen!« Sie hatte mich nahezu angefleht, damals, auf der Rückfahrt von dem Pflegeheim. Wir hatten Oma besucht, und an jenem Tag war es noch schrecklicher gewesen als sonst. Oma hatte im Speisesaal mit Kot um sich geworfen (»Guck mal, was ich kann«) und dann versucht, ihre eigenen Haare zu essen. Als wir zu ihr gelassen worden waren, schwebte sie bereits im siebenten pharmazeutischen Himmel und sabberte wie früher, wenn sie vor dem Fernseher eingeschlafen war.
    »Lieber Gott, so will ich nicht enden«, hatte Mama im Auto geweint und war rechts rangefahren. Und dann hatte sie mich mit einem Fluch belegt und mir das viel zu große Versprechen abgenommen, sie niemals allein in einer Situation zurückzulassen, in der sie nicht mehr Herr ihrer Sinne wäre.
    »Lieber sollen sie die Geräte abstellen.« Sie nahm meine Hand, sah mir tief in die Augen und wiederholte es noch einmal: »Versprich mir, Alex, sollte ich jemals einen Unfall haben und dann nur noch so vor mich hin vegetieren wie Oma, dann will ich, dass ihr alles tut, damit ich nicht so ende wie sie, hörst du?« Lieber sollen sie die Geräte abstellen.
    Hätte sie doch nur eine Patientenverfügung geschrieben. Wäre doch nur mein Vater noch am Leben, um die Entscheidung an meiner Stelle zu treffen. Hätte ich doch einfach selbst den Mut gefunden, ihren letzten Willen wahr werden zu lassen.
    Einmal schon hatte ich es versucht, war mit dem festen Vorsatz, den Stromschalter des Beatmungsgeräts umzulegen, in das Sanatorium gefahren - und war kläglich gescheitert. Nach der Tragödie auf der Brücke hatte ich nicht mehr die Kraft, einem weiteren Menschen das Leben zu nehmen. Und so war es meine Schuld, dass meine Mutter, diese einst so kraftvolle, lebenslustige, emanzipierte Frau, die sich noch nicht einmal von einem Kellner in den Mantel helfen lassen wollte, heute den Launen eines unterbezahlten Pflegepersonals ausgesetzt war, ohne dessen Hilfe sie nicht einmal mehr ihren Stuhlgang kontrollieren konnte. Sie hätte das nicht gewollt. Lieber wäre sie tot gewesen, das hatte sie mir deutlich gesagt, doch ich hatte es an jenem Tag nicht geschafft, sie umzubringen. Und das schien der Augensammler zu wissen. Denk an deine Mutter.
    Er musste mich gut kennen: Er schien zu wissen, dass ich sekundenlang den Kippschalter an ihrem Beatmungsgerät angestarrt hatte, der allem Leid ein Ende gemacht und mir einen Prozess wegen illegaler Sterbehilfe eingebracht hätte. Er wusste, ich war zu weich. Ich hatte mit dem Schuss auf Angelique jeden Mut in mir verbraucht, der nötig war, um einen weiteren Menschen zu töten, selbst dann, wenn der Tod dessen Leiden vermindern könnte und womöglich sein dringlichster Wunsch wäre.
    Deshalb stellte der Augensammler mich hier unten vor eine unlösbare Aufgabe.
    Ein Spiel ist ein Spiel. Und es gibt kein Spiel ohne Chancen.
    Er hatte mich nicht dazu aufgefordert, die Absaugpumpe zu finden. Wenn ich meines und Alinas Leben retten wollte, sollte ich eine ganz andere Maschine abstellen: die, die nur einen Schritt von mir entfernt die gefolterte Frau am Leben hielt.
    Du kannst die Pumpe abstellen und gewinnen!
    Das Beatmungsgerät neben dem Bett der unbekannten Frau!
    Ich schrie dem Studenten am Telefon meine Adresse entgegen, flehte ihn an, Hilfe zu schicken. Die Worte überschlugen sich in meinem

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