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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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weshalb ich mich mit einem angetrunkenen Vollidioten unterhalten muss, nachdem ich den Notruf gewählt habe, um die verwesende Frau zu retten, mit der ich und meine blinde Begleitung in einem dunklen Keller eingesperrt sind. »Wovon sprechen Sie?«
    »Okay, aber Sie müssen mir versprechen, es niemandem weiterzusagen, ja? Ich habe das früher häufiger gemacht, deshalb steht meine Nummer noch im Internet. Aber irgendwie langweilen mich diese Rollenspiele immer mehr. Ich habe den Quatsch hier nur zugesagt, weil der Typ am Telefon mir hundert Euro dafür versprochen hat.« Rollenspiel? O Gott, der Augensammler hatte eine Rufumleitung zu einem Studenten geschaltet, der dachte, er könnte sich bei einer interaktiven Schnitzeljagd ein paar Euro hinzuverdienen, wenn er den Spielteilnehmern Hinweise gab.
    Nur ist das hier kein Spiel. Zumindest für niemand anderen als den Augensammler selbst.
    »Der Mann, der Ihnen das Geld gegeben hat, damit Sie ans Telefon gehen, wenn ich diese Nummer wähle, was hat er Ihnen aufgetragen?« »Na, diese E-Mail hier vorzulesen.«
    Ich hustete und hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, als wäre die Luft, die ich atmete, trockener geworden. »Du hast noch Luft für fünfzehn Minuten«, las der Mann weiter vor. Das monotone Staubsaugergeräusch war in ein stetiges Dröhnen übergegangen. »So lange dauert es, bis die Pumpen die Luft aus dem Keller gesaugt haben. Wenn du nicht alleine gekommen bist, um das Rätsel zu lösen, bleibt dir noch weniger. Aber du weißt ja, ein Spiel ist ein Spiel. Und es gibt kein Spiel ohne Chancen. Du kannst die Pumpe abstellen und gewinnen!« Er machte eine Pause, in der jemand im Hintergrund etwas Obszönes grölte. »Weiter?«
    »Mehr steht hier nicht.« Er lachte verlegen. »Was heißt, mehr steht da nicht?«
    Wie sollte ich im Dunkeln die verdammten Pumpen abstellen, die aus unserem Verlies ein Vakuum machen würden, wenn ich nicht einmal wusste, wo sie sich befanden? Ich fasste mir an die trockene Kehle.
    »Hey, Partner, Sie sagen ihm doch nicht, dass ich es versaut habe, oder? Ich muss jetzt auflegen.«
    Die Partymusik war wieder lauter geworden. Offenbar hatte der Mann das Zimmer gewechselt und stand jetzt mitten auf einer Tanzfläche.
    »Nein, nicht auflegen.« Jetzt schrie ich gleichzeitig gegen den Hintergrundlärm und gegen die Motorengeräusche der Absaugpumpe an. »Da muss noch was sein.« »Nein, Alter. Ehrlich, da ist ... Moment mal.« Er hielt inne, und ich presste den alten Hörer noch fester gegen mein Ohr.
    »So ein Scheiß. Die Betreffzeile der Mail. Hab ich doch echt fast übersehen.«
    »Was?«, fragte ich so ruhig, wie es mir in diesem Augenblick möglich war.
    Ruhig bleiben. Ich musste langsam und tief atmen. Du hast noch jede Menge Zeit, versuchte ich mir zu sagen. Auch wenn Alina und TomTom ebenfalls Sauerstoff verbrauchen und der Keller nur wenige Kubikmeter umfasst -zehn Minuten sind eine verdammt lange Zeit, um einen Plan zu fassen.
    »Verdammt noch mal, was steht da als Betreff?« Es raschelte ein letztes Mal am anderen Ende der Leitung, dann sagte der Mann etwas, was mir endgültig den Verstand raubte: »Nur vier Worte, Alter. Da steht: Denk an deine Mutter!«

34. Kapitel
    Meine Mutter starb am Morgen des zwanzigsten Mai in unserer Küche, kurz nachdem ihr beim Backen etwas Mehl in die Nase gestiegen war. Ihre beste Freundin Babsi, die zufällig zu Besuch gewesen war, schrie den ausländischen Notarzt an, er solle sich ihre Nase anschauen. »Sie hat sich die Nase zugehalten!«
    Babsi wiederholte es mindestens ein Dutzend Mal: Als sie Mama auf die Trage hoben, während sie sie unter dem Staunen der Nachbarn in den Rettungswagen verfrachteten, und auch den Ärzten der intensivmedizinischen Abteilung im Virchow schrie sie es entgegen: »Warum nur hat sie sich die Nase zugehalten?«
    Für Babsi lag es auf der Hand, dass sich dadurch der Unterdruck im Hirn aufbaute, der das Aneurysma zum Platzen brachte. Erst sehr viel später wurde ich von einem Arzt mit müden Augen und vorstehenden Zähnen darüber aufgeklärt, dass Mama den Infarkt auch dann nicht abgewendet hätte, wenn sie ganz normal in ein Taschentuch geschneuzt hätte.
    »Die Hirnblutung war vermutlich der Auslöser des Niesreflexes. Oder es war reiner Zufall, dass Ihrer Mutter gerade etwas in die Nase gestiegen war in dem Moment, in dem das Aneurysma platzte. Den Schlaganfall jedoch hat das nicht verursacht.«
    Wie tröstlich. Meine Mutter hing also nicht an einer Batterie

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