Der Augensammler
Gedanken. Sie hatte sich offenbar TomTom widersetzt und stand jetzt dort, wo ich den Bewegungsmelder ausgelöst hatte, in der Mitte der Treppe. TomTom wartete eine Stufe vor ihr, hechelnd und zitternd vor Aufregung. »Ich kann nicht«, stöhnte ich erstickt auf, immer noch bemüht, den Tatort nicht durch eine unbedachte Bewegung zu kontaminieren.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Gott im Himmel, ich steh das hier nicht durch.
Das Bild der Frau, die nichts mehr war als eine atmende Wunde, wollte nicht verschwinden, selbst als ich für einen Moment die Augen schloss.
Sie war gefesselt auf eine Art, wie es mir noch nie zu Gesicht gekommen war, der ganze Körper war von einer durchsichtigen Folie überzogen, als wäre sie ein großes Stück Fleisch, das man in einen Gefrierbeutel gesteckt hatte. Tatsächlich musste der Wahnsinnige, der für diese Perversion verantwortlich war, alle Luft unter der Folie herausgesaugt haben, die dadurch direkt auf den Muskeln unter der zerfetzten Haut lag.
Als mir der Sinn dessen klar wurde, begann ich zu würgen. Wegen der Nachbarn. Damit es weniger riecht, wenn sie bei lebendigem Leibe verwest.
Sie war tatsächlich eingeschweißt worden, wie ein Lebensmittel in Klarsichtfolie verpackt. »Brauchst du Hilfe?«, fragte Alina. »Nein, ich ...«
Hilfe. Ja. Natürlich brauche ich Hilfe. Ich sah auf mein Handy und stöhnte auf. Logisch. Wir sind im Keller. Kein Empfang. Schlimmer noch! Die Verbindung musste schon am Eingang abgerissen sein, denn mein Telefon zeigte mir noch eine SMS im Postausgang. Das Versenden war fehlgeschlagen. Stoya wusste nicht, wo ich war.
Schnell drehte ich dem Martyrium vor mir den Rücken zu und ging zur Treppe zurück.
»Wir müssen hier raus. Wir müssen sofort die Feuerwehr .« Wummmm! » Alina? «
Ich schrie ihren Namen fast, so sehr hatte mich das unerwartete Geräusch hinter ihr erschreckt. Auch sie zitterte jetzt nicht weniger als TomTom. »Was war das?«
Nein, bitte nicht. Lass es nicht das sein, was ich vermute ... Mir war der kalte Hauch frischer Luft schon am Kopf der Treppe aufgefallen. Verdammt!
Wir hatten alle Türen offen gelassen, vom Eingang über den Flur bis hin zur Kellertür. Draußen hatte der Wind aufgefrischt. Noch mild, kein Wintersturm, aber stark genug, um Zug zu erzeugen, der durch die Zimmer wehte und . »Scheiße!«
Ich drängte an Alina und TomTom vorbei die Treppe hoch und trat voller Wut und Verzweiflung gegen die Kellertür, die soeben ins Schloss gefallen war.
Ich rüttelte erst an der Klinke, dann stemmte ich mich mit der Schulter dagegen, doch meine Knochen waren nachgiebiger als diese Metallplatte, die uns den Rückweg versperrte. Das Handy in meiner Hand zeigte auch hier, auf der obersten Treppenstufe, keinen Empfangsbalken, also presste ich mich wieder an Alina und TomTom vorbei zurück in den Keller.
»Was hast du vor? Sag doch endlich!« Ich ignorierte ihre ungeduldige Frage und überprüfte, ob das Telefon auf dem Beistelltisch noch funktionierte. Tatsächlich. Dieses alte, vorsintflutliche Teil ist am Netz. Es war noch mit einer Wählscheibe ausgestattet, wie ich sie seit den achtziger Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wie bei Oma. Alles ist wie bei Oma. Nicht nur das Todesparfum.
Sogar das Wählschloss war vorhanden. Ein Relikt aus alten Tagen, in denen Ferngespräche noch ein Vermögen gekostet hatten und man sein Telefon vor dem Urlaub mechanisch vor ungebetenen Anrufern schützte. Wie damals üblich, war auch hier das winzige Schloss so angebracht, dass sich die Wählscheibe nur für zwei Ziffern drehen ließ - die Eins und die Zwei.
Aber das reicht mir. Mehr Zahlen brauche ich nicht, um den Notruf zu wählen.
Ich presste den Zeigefinger durch die Öffnung der Wählscheibe. 1 ... 1 ... 2
Das altmodische Rattern der Scheibe erzeugte einen unheimlichen Gleichklang mit der Beatmungsmaschine neben mir. Ich hielt die Luft an und bot alle meine Kraft auf, nicht nach rechts zu sehen. Nicht zu der lebenden Leiche. Es klingelte. Einmal. Zweimal.
Mit dem dritten Klingeln wurde es schlagartig dunkel.
36. Kapitel
(Noch 6 Stunden und 11 Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums)
Frank Lahmann (Volontär)
Wo ist er?«
Thea Bergdorf musste sich von hinten an Frank herangeschlichen haben. Er fragte sich, wie lange sie ihn schon beobachtet hatte.
»Ich weiß, dass Sie Kontakt halten, also verarschen Sie mich nicht, Kleiner!«
So, wie die Chefredakteurin jetzt vor ihm stand, ähnelte sie einem Torhüter, der dazu
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