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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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erneut und streichelte ihr den Rücken. Sie igelte sich nur noch weiter ein, indem sie die Schultern anzog, fast so, als wären meine Berührungen Schläge, denen sie so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten wollte. »Ich kann mich modisch kleiden, schminken, tätowieren und mir einreden, das würde meine Blindheit etwas weniger blind machen, verstehst du?« Ihr Körper bebte. »Aber das funktioniert so nicht«, wiederholte sie. »Lass mich dir helfen!«
    »Helfen?«, brüllte sie mich an. »Wie denn? Du hast doch keine Ahnung von der Welt, in der ich lebe. Du schließt die Augen, es wird schwarz, und dann denkst du: >Aha, so ist es also, wenn man blind ist.< Aber so ist es nicht.« »Das weiß ich .«
    »Einen Scheiß weißt du. Oder hast du schon mal erlebt, dass man dich an der Schulter packt und gegen deinen Willen über die Straße führt, weil man denkt, dem Behinderten müsse geholfen werden? Hast du dich auch schon mal über Rollstuhlfahrer ärgern müssen, für die man die Bordkanten absenkt, weshalb ich jetzt verdammt noch mal nicht mehr weiß, wo der Bürgersteig aufhört und die Straße anfängt? Tun Menschen in deiner Gegenwart auch so, als wärst du Luft und reden nur mit deiner Begleitperson? Schätze, die Antwort ist nein, oder?«
    Sie schluckte. »Du tust so verständnisvoll, aber in Wahrheit bist du ein Ignorant, Alex. Scheiße, ich wette, du hast dir noch nicht ein einziges Mal Gedanken über die Fünfernoppe auf deinem Tastentelefon gemacht. Du berührst sie täglich, denn sie ist auf jeder Fünf. Telefon, Taschenrechner, Geldautomat, Computer. Das ist unser Orientierungszeichen, damit wir blind telefonieren und Zahlen tippen können. Tag für Tag berührst du meine Welt und verschwendest trotzdem nicht einen einzigen Gedanken daran. Also erzähl mir nicht, dass du irgendetwas von mir und meinem Leben verstehst. Du kannst es dir nicht einmal annähernd vorstellen.« Sie zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Ellbogen die Tränen vom Gesicht und atmete tief durch. Ein großer Teil ihrer Anspannung hatte sich mit dem Wortgewitter entladen. Als sie weiterredete, hielt sie die Stimme schon wieder etwas gesenkt. Doch sie war noch lange nicht fertig. Ich spürte, dass das Wichtigste, was sie mir zu sagen hatte, noch bevorstand. »Manchmal nachts, wenn ich schlafe, träume ich davon, in einen Brunnen zu fallen. Ich falle und falle, mein Sturz in die Finsternis hört gar nicht mehr auf. Gleichzeitig wird es immer dunkler um mich herum. Ich strecke die Hände aus, um die Wände des Brunnens zu berühren, doch da sind keine mehr. Sie lösen sich auf, so wie meine letzten Erinnerungen an die Welt vor dem Unfall.«
    Ein Holzscheit im Ofen durchbrach das folgende Schweigen.
    »Sie verschwinden, verstehst du? Alles weg. Meine Erinnerungen an Licht, Farben, Formen, Gesichter, Gegenstände. Je tiefer ich falle, desto mehr bleichen sie aus. Und weißt du, was das wirklich Schreckliche daran ist?« Dass es nicht aufhört, sobald du aufwachst. »Ich schreie mich wach, und das Fallen hört auf«, sagte sie und klang auf einmal unendlich erschöpft. »Aber nur das Fallen. Alles andere ist noch da. Ich bin immer noch in diesem Zustand gefangen. In diesem schwarzen Loch, diesem Nichts. Und dann sitze ich zitternd im Bett, verfluche den Tag, an dem ich Sandkuchen backen wollte, und frage mich, ob ich überhaupt noch existiere.«
    Sie drehte den Kopf zu mir, als wollte sie mich ansehen. »Gibt es die Welt da draußen überhaupt?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Erst recht nicht auf die verstörende Frage, die sie mir als Nächstes stellte. »Gibt es mich?«
    Sie griff nach dem Saum ihrer Bluse und zerknüllte ihn wie ein Stück Papier. »Bin ich da, Alex?«
    Ich zögerte, doch dann griff ich nach ihrer Hand und löste vorsichtig die ineinander verschränkten Finger. »Ja, bist du.«
    »Beweis es mir. Bitte, zeig es mir, damit ich es glauben kann.«
    Sie tastete nach meinem Gesicht. Streichelte mir sanft über das Kinn, fuhr über die Lippen und ließ die Finger kurz auf meinen geschlossenen Augen verharren. Ich erlebte einen der seltenen Momente im Leben, in dem die Erinnerungen verstummen. Ich dachte nicht mehr an das Baby auf der Brücke, nicht an meine gescheiterte Ehe, selbst das Gesicht von Charlie, deren Kinder ich aus den Fängen des Augensammlers retten wollte, verschwand von meinem inneren Auge. Stattdessen breitete sich ein Gefühl in mir aus, das ich fast vergessen hatte. Zuletzt hatte

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