Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Die schon in der Ursprungsausgabe geäußerten Vermutungen, daß die Gefangenen in ihren Zellen abgehört worden sind, haben sich dadurch weiter verdichtet.
Erstmalig ist das Buch mit Fotos ausgestattet worden, einige davon stammen aus Ermittlungsakten und waren bisher weitgehend unbekannt.
Meine Sicht auf die Geschichte der RAF und die Reaktion des Staates auf die Gruppe hat sich im Laufe der Zeit im Lichte der neueren Erkenntnisse nicht wesentlich verändert – außer vielleicht in zwei Punkten: wie genau man innerhalb der RAF über die Tatsache des Selbstmordes der Gefangenen in Stammheim Bescheid wußte und wie systematisch man die Mordlegende gestrickt hat. Und: welch ein ungeheures Versagen des staatlichen Fahndungsapparates dazu geführt hat, daß Schleyer nicht befreit wurde, obwohl es schon weniger als 48 Stunden nach der Entführung einen konkreten Hinweis auf sein Versteck gab.
Einige Fragen bleiben bis heute ungeklärt. So etwa die Hintergründe mancher Geheimdienstspuren, die sich durch die Geschichte ziehen. Oder der dringende Verdacht, daß die Gefangenen in Stammheim auch während der Schleyer-Entführung in ihren Zellen abgehört wurden – und daß es womöglich einen Tonbandmitschnitt ihrer letzten Nacht gibt.
Der Schilderung vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt, das habe ich beim Schreiben der ersten Version des Buches genauso gespürt wie jetzt bei der Aktualisierung und Ergänzung. Zum einen ist nicht jeder bereit, Auskunft zu geben. Zum anderen sind auch Augenzeugenberichte immer subjektiv gefärbt. Ich habe damals und heute versucht, aus den verschiedenen Aussagen herauszufiltern, was sich tatsächlich abgespielt hat. Gab es einander kraß widersprechende Versionen, so habe ich diese gegenübergestellt. Soweit es möglich war, habe ich im Fluß der Erzählung deutlich gemacht, auf welche Quellen ich mich stütze. Eine ganze Reihe von Informanten haben aber darum gebeten, anonym zu bleiben.
Wertungen habe ich möglichst vermieden. Dennoch ist die Auswahl des Materials, die Gewichtung, die Zusammenstellung meine subjektive Entscheidung.
Hamburg, im Juli 2008
Stefan Aust
1. Kapitel Wege in den Untergrund
1. Tod in Stammheim
» 00 . 38 Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes hatte um 00 . 00 Uhr die Aktion auf dem Flughafen von Mogadischu gestartet. Nach den ersten Informationen sollen drei Terroristen getötet worden sein.«
Zwei Minuten später wiederholte das gemeinsame Nachtprogramm der ARD die Meldung im Wortlaut. Es war Dienstag, der 18 . Oktober 1977 . Im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim wachte einsam der Justizassistent Hans Rudolf Springer über die Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller. Er saß in der Wachkabine, getrennt von den Gefangenen durch Wände, Gitter und Türen. Über Fernsehmonitore konnte er den großen Flur vor den Zellen beobachten. Nichts regte sich.
Die Meldung, eingestreut in das nächtliche Musikprogramm, riß Springer vom Stuhl. Er ging in den hinteren Flügel des Zellentrakts und stellte sich vor das Gitter zum Flur. Alles war still. Springer ging zurück in seinen Wachraum und starrte weiter auf die Monitore.
Um 6 . 30 Uhr wurde der Justizassistent von einem Kollegen abgelöst. Langsam erwachte die Anstalt.
Um 7 . 15 Uhr traten die Vollzugsbediensteten Miesterfeld, Stapf, Stoll, Griesinger und Hermann ihren Dienst an. Hauptsekretär Klaus Miesterfeld holte bei der Vollzugsdienstleitung die Zellenschlüssel ab und quittierte mit seiner Unterschrift. Dann schaltete er die Alarmanlage aus. Er öffnete die Gittertür zum Zellenflur und zog die Jalousien vor dem Fenster am hinteren Zellenflur auf. Licht fiel durch die Glasbausteine. Die Beamten wuchteten gemeinsam die gepolsterten Spanplatten von den Zellentüren, mit denen nächtliche Sprechkontakte zwischen den Gefangenen verhindert werden sollten.
Miesterfeld öffnete die Sicherheitsschlösser aller vier Zellen. Um 7 . 41 Uhr schloß Obersekretär Stoll die Tür zur Nummer 716 auf. Neben ihm stand der Hauptsekretär Willi Stapf. Die beiden Beamten hatten den Frühstückswagen mit Kaffee, Graubrot und einem gekochten Ei in
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