Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Kinn hochgezogen. Der Sanitäter faßte sie an der rechten Schulter, drehte sie auf den Rücken und zog die Decke weg. Irmgard Möller stöhnte. Adolf Soukop spürte Blut an seinen Händen. Er vermutete, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten, und untersuchte ihre Handgelenke. Als er keine Verletzungen finden konnte, schob er das schwarzblaue T-Shirt der Gefangenen hoch und sah, daß sie in der Herzgegend mehrere Stichverletzungen hatte. Er fühlte den Puls und stellte achtzig Schläge pro Minute fest. Dann versuchte er, ihr in die Pupillen zu sehen, aber Irmgard Möller kniff die Augen zusammen. Unterdessen betrat der Anstaltsarzt Dr. Majerowicz die Zelle und untersuchte die Verletzte. Er kam zu dem Ergebnis, daß lebensgefährliche Stichwunden nicht vorlagen. Nach seinem Eindruck war Irmgard Möller bei vollem Bewußtsein. Er gab ihr eine Spritze mit einem Herz-Kreislauf-Mittel und deckte die Wunden ab.
Inzwischen war der zweite Notarztwagen eingetroffen. Irmgard Möller wurde in das Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht. Rechts von der Matratze in Irmgard Möllers Zelle lag ein blutverschmiertes Anstaltsmesser auf dem Fußboden; ein normales, oben abgerundetes Besteckmesser mit Wellenschliff.
In der Abteilung für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der chirurgischen Universitätsklinik stellten die Ärzte fest, daß Irmgard Möller vier eineinhalb bis zwei Zentimeter tiefe Stiche im unteren Viertel der linken Brust hatte. Bei der Operation zeigte sich, daß das Gewebe vor dem Herzbeutel blutig durchtränkt, der Herzbeutel selbst aber nicht verletzt war.
2. Die Befreiung
Am 14 . Mai 1970 versah der Hauptwachtmeister Günter Wetter den Aufsichtsdienst im Verwahrhaus I der Strafanstalt Tegel in Berlin. Bei der Dienstbesprechung um 6 . 30 Uhr ordnete sein Vorgesetzter an, den Strafgefangenen Andreas Baader zum »Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen« in der Dahlemer Miquelstraße auszuführen. Dort sollte Baader die Journalistin Ulrike Marie Meinhof treffen, um gemeinsam mit ihr Unterlagen einzusehen. Baader und Meinhof wollten ein Buch über die Organisation »randständiger Jugendlicher« schreiben.
Oberwachtmeister Karl-Heinz Wegener sollte Wetter begleiten. Vor der Ausführung mußte sich Wetter noch zu einem kurzen Gespräch bei seinem Chef einfinden. Ihm blieb noch etwas Zeit, und er holte sich die Gefangenenakte Baaders. Auf einem Zettel notierte er sich das Geburtsdatum, 6 . Mai 1943 , die Straftat, »menschengefährdende Brandstiftung«, und das voraussichtliche Strafende, Anfang 1972 . Dazu die Personendaten Baaders: »Größe 176 Zentimeter, schlank, Kopf oval, hohe Stirn, vorspringendes Kinn, Haar braun, Ohrläppchen frei hängend, Zähne lückenhaft.«
Dann nahm er ein Paßfoto von Andreas Baader aus der Akte, wie es bei einer Ausführung vorgeschrieben war. Er holte sich vom Anstaltsleiter Wilhelm Glaubrecht die Ausführungsgenehmigung, in der die Einzelheiten festgelegt waren. Der Gefangene sollte Zivil tragen, die Beamten Uniform und Schußwaffen. Handfesseln sollten ebenfalls mitgenommen, aber nur bei Bedarf angelegt werden.
Baader wurde belehrt, wie er sich zu verhalten habe. »Es besteht keine Gefahr«, versicherte Baader. »Ich denke nicht daran, abzuhauen. Schließlich habe ich einen Buchvertrag mit einem Verleger. Dafür bekomme ich eine ganze Menge Geld. Und das kann ich dringend brauchen.« Wetter wußte von dem Buchvertrag, dennoch wies er Baader vorschriftsmäßig darauf hin, daß die Beamten bei einem Fluchtversuch von der Schußwaffe Gebrauch machen würden.
Bis zum Eintreffen des Transportwagens wurde Baader in einer Zelle des Pfortengebäudes eingeschlossen. Die Beamten holten ihre Pistolen und schoben ein volles Magazin ein. Kurz darauf begann die Fahrt nach Dahlem. Um 9 . 20 Uhr stoppte das Fahrzeug vor dem Institut. »Spätestens um 13 . 30 Uhr können Sie uns wieder abholen«, sagte Wetter dem Fahrer. Oberwachtmeister Wegener fesselte seinen linken Arm mit einer Schließacht an Baaders rechten Arm und stieg zusammen mit dem Gefangenen aus dem Wagen. Wetter klingelte, und nach kurzem Warten öffnete der Institutsangestellte Georg Linke. Die Beamten zeigten ihre Dienstausweise und erklärten Linke den Grund ihres Besuches. Die Bibliothekarin Gertrud Lorenz erschien in der Tür und führte die Dreiergruppe in den Raum neun.
Dort saß Ulrike Meinhof bereits über Karteikästen. Wetter untersuchte eine zweite Tür und stellte fest, daß sie verschlossen war.
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