Der Bär
Patenonkel von Adam Wölber. Das wusste Gott sei Dank niemand.«
Eine Weile herrschte Schweigen, der Raum schien immer kleiner zu werden, immer enger, immer bedrückender.
Dann sagte Rodenstock streng: »Herr Mehring, wir können Ihnen nicht Satz für Satz aus der Nase ziehen. Dann sitzen wir Weihnachten noch hier ... «
»Das wäre schön«, murmelte der Alte schnell und lächelte.
»Ich meine«, fuhr Rodenstock fort, »Sie sollten uns die Dokumente einsehen lassen.
Wir nehmen sie Ihnen ja nicht weg, Sie sind und bleiben der Besitzer. Ich will ganz offen sein: Das plötzliche, unerklärliche Verschwinden von Karl-Heinrich Wesendonker können Sie doch auch nicht erklären.«
»Aber sicher doch«, sagte er schnell und fest. »Die Herren haben ja nicht nur wichtige Grundstücke für den Eisenbahnbau und die Stadtentwicklung gekauft, die wollten auch ihren Spaß mit den Frauen anderer.«
»Na, na, na«, murmelte Emma heftig.
»Es war so«, beharrte der Alte. »Hol den Kasten!«
Der Sohn ging hinaus und kehrte nach kurzer Zeit zurück. Er trug einen grob geschmiedeten Kasten, etwa vierzig Zentimeter lang, dreißig Zentimeter breit und zehn Zentimeter hoch. Das Schloss saß auf der Deckplatte, ein einfaches Schnappschloss mit einem großen, dicken Schlüssel. Der Sohn stellte den Kasten vor den Vater auf die Bettdecke und zog sich wieder an das Fenster zurück.
»Ich wusste, irgendwann würden Sie kommen. Ich habe noch nie mit jemandem ausführlich drüber geredet. Ich würde auch mit Ihnen nicht reden, wenn ich nicht wüsste, dass Sie über den Fall schreiben wollen. Zum ersten Mal will jemand drüber schreiben.« Er lächelte zufrieden. Er schloss den Kasten auf und griff hinein. Er holte ein Bündel alter Papiere heraus, das mit einem Gummiband zusammengehalten wurde. Er streifte das Gummiband ab und bedeutete seinem Sohn, den Kasten wegzunehmen. Der Kasten wurde auf einen runden Tisch gestellt, der in einer Ecke des Raumes stand.
»Hier ist zunächst einmal die Liste der Grundstücke, die die Herren kauften. Genau chronologisch registriert nach den Nummern im Katasteramt. Insgesamt sind es zweiundvierzig Grundstücke. Die Vorbesitzer sind genau benannt. Genau das wollte mein Urgroßonkel öffentlich machen.« Dann sah der Alte Rodenstock an: »Ja, er war ein Mann, der sich wehrte. Aber es war zu spät, er konnte nichts mehr erreichen. Sie können sich eine Kopie machen, ich will, dass die Originale in meiner Familie bleiben.«
»Das kann ich gut verstehen«, nickte Emma.
Der Alte murmelte gedankenverloren: »Er machte ihnen Feuer unter dem Arsch, er wollte sie eigentlich zum Tempel rausjagen.«
»Er schickte ihnen die Liste, nicht wahr?«, fragte Rodenstock.
»Richtig. Die Liste und einen anonymen Brief. Er schickte die Liste und den Brief anonym an das Hotel, in dem sie jeden Abend ihren Dämmerschoppen tranken. Er gab ihnen eine Woche Bedenkzeit. Hier ist der Brief. Kurz und bündig heißt es da:
Sehr geehrte Herren,
dem Verfasser ist bekannt, dass Sie Ihr Wissen ausnutzten, sich Grundstücke im Bereich Pelm, Gerolstein und Lissingen zu kaufen, wobei Sie die trostlose wirtschaftliche Lage der Besitzer ausnutzten. Ich gebe Ihnen acht Tage Zeit, die Käufe rückgängig zu machen. Ich werde mich erneut melden.
Das war Wölbers Brief. Natürlich bekam er keine Antwort, und er erhielt auch kein Zeichen. Stattdessen wurde Tutut totgeschlagen. Ich nehme einmal an, dass sie glaubten, Tutut hätte nicht nur von den Frauen berichtet, sondern auch von den Grundstücken. Tutut kam überall rum, ich wette, er hat die Affären mit den Frauen ebenso gekannt wie den Kauf der Grundstücke über einen Zeitraum von vier Jahren. Tutut wusste das alles. Es existiert aber kein Hinweis, dass Adam Wölber jemals mit Tutut Kontakt hatte. Die Männer müssen in Panik geraten sein.«
»Waren sie alle dabei, als Tutut getötet wurde? Und wer schlug ihm den Schädel ein?«, fragte Rodenstock.
»Sie waren alle dabei«, nickte der alte Mann. »Da gibt es einen Brief, den jemand anonym an das Pfarramt in Gerolstein schickte. Der Mann muss zugegen gewesen sein, als Tutut starb. Da habe ich keinen Zweifel. Hier ist der Brief, datiert vom 24. August des Jahres 1891, also genau drei Jahre später:
Hochwürdigster Herr Pfarrer!
Ich befehle meine Seele dem Herrn. Ich will in einer wichtigen Angelegenheit dieser Gemeinde nicht mehr schweigen. Hier reden alle immer wieder von dem geheimnisvollen Tod des Zigeuners, der unter dem Namen
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