Der Bär
Tutut bekannt war und der als Scherenschleifer, Bote, Gärtner u. ä. mit einem Tanzbären durch unser Land zog. Heute vor genau drei Jahren wurde er in Höhe Rockeskyll erschlagen. Er wurde verscharrt samt einem Reitpferd an der Südwestecke des alten Juddefriedhofs oben vor der Munterley. Dort stehen Eichen. Eine Gruppe von sieben ehrenwerten Bürgern der Stadt näherte sich dem Zigeuner, um mit ihm zu verhandeln und ihm ein Schweigegeld anzubieten. Denn der Zigeuner wusste allerlei über höchst diskrete Geschäfte und höchst diskrete Liebschaften. In den Augen der sieben ehrenwerten Bürger war er höchlichst eine strenge Gefahr für dieses Gemeinwesen, denn er konnte nicht schweigen. Der Zigeuner stritt ab, etwas von diesen Dingen irgendjemandem erzählt zu haben. Und er wollte kein Geld nehmen, was vermuten ließ, dass ein Unbekannter ihm bereits für sein Wissen Geld gezahlt und das Wissen auch bekommen hatte. Es kam zu einem wilden Streit, in dessen Verlauf einer der sieben Bürger den Zigeuner unglücklich am Hinterkopfe traf, sodass dieser tot zu Boden stürzte. Der Tanzbär des Zigeuners geriet in Rage und riss sich los. Er zerfetzte einem der Bürger den rechten Arm, sodass der nur noch an einem Faden zu hängen schien. Dann griff das Tier ein Reitpferd an und riss es auf, sodass die Gedärme herausquollen und das Tier furchtbar schrie. Anschließend verschwand der Bär im Wald und wurde später von einem Jäger des Grafen von Manderscheid erlegt. Die Bürger brachten den Schwerverletzten nach Hause und schafften die Leiche des Zigeuners und den Körper des toten Pferdes hinauf zur Munterley, wo sie in aller Eile eine Grube aushoben und den Mann und das Tier vergruben. Dies schreibt jemand, der zugegen war, als alles das geschah. Der Herrgott möge meiner Seele gnädig sein.«
»Und der Pfarrer tat nichts«, sagte ich seufzend.
»Richtig. Der tat nichts, weil er genau wusste, was alles dahintersteckte. Wahrscheinlich war er auch viel zu feige, wahrscheinlich hielt er es mit der wohlhabenden Bürgerschaft. Pfarrer sind manchmal so.«
»Wie ist nun der Adam Wölber an den Brief gekommen?«, fragte Rodenstock.
Der Alte antwortete ohne jede Spur von Spott oder Schalk oder Ironie: »Ich vermute, er hat ihn einfach geklaut. Denn der Brief hier ist das Original. Er hat wahrscheinlich gehört, dass der Brief im Pfarramt liegt, hat irgendein anderes Interesse vorgeschoben und dabei den Brief mitgehen lassen. Das lernte ich langsam verstehen. Dieser Adam Wölber nämlich wurde damals um mindestens dreißigtausend Mark gebracht, was eine ungeheure Summe war. Und an dem Fall Tutut war er zunächst gar nicht interessiert. Er wollte die Grundstücksfrage klären.«
»Und Wesendonker?«, fragte Emma zaghaft.
»Tja, Wesendonker, der höchst beliebte Karl-Heinrich Wesendonker, der der Maria Hansen die Ehe versprochen hat und ihr dann nicht nachreiste.« Er grinste wie ein Gassenjunge. »Also, das ist wirklich ein Fall für sich.« Er bewegte die Hände etwas unruhig. »Aber ich habe ihn aufgetrieben, ich habe herausgefunden, wohin er sich abgesetzt hat. Sie werden es nicht glauben. Aber erst muss mal geklärt werden, weshalb die großen Bürger ihn so schnell verschwinden ließen.«
»Das wäre schön«, nickte Rodenstock andächtig.
Er war ein Bauer, aber er sprach so sachlich wie ein Banker, der Aktien zu verkaufen versucht. Und er sprach schnörkelos und formulierte ohne jede Mühe. Wahrscheinlich hatte er sich sein Leben lang mit diesem Fall beschäftigt, wahrscheinlich hatte er dauernd mit seinem eigenen Schatten darüber diskutiert.
»Also, ehrlich gestanden weiß ich nicht, woher mein Urgroßonkel, der Adam Wölber, alle die Informationen herhatte, die er mir hinterließ. Aber man muss sich vorstellen, dass damals ganz Gerolstein jahrelang über die Grundstücksgeschichte redete. Und dann kamen noch diese Frauengeschichten hinzu. Der Wesendonker mit der Maria Hansen, der Richter Brandscheid mit der Frau vom Wesendonker. Niemand wusste etwas Genaues, außer den Herren in der Skatrunde. Und die hätten nie ein Wort verlauten lassen, denn sie alle hatten sich mit den Grundstücken versorgt und durch den Weiterverkauf bereichert. Jeder von ihnen fürchtete den Skandal wie der Teufel das Weihwasser. Jeder in der Stadt bildete sich ein Urteil, jeder redete, jeder setzte auf seine Weise die angeblichen oder tatsächlichen Fakten aneinander. Manches von dem, was Adam Wölber aufgeschrieben hat, wird übertrieben
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