Der Bann (German Edition)
stand die Werkbank, an der Nate gearbeitet hatte. Auf der Arbeitsfläche befanden sich ein gesprungener blauer Kaffeebecher und ein Porzellanteller. Daneben lagen mehrere Reststücke Glas.
Leah saß mitten im Raum im Schneidersitz. Die Pupillen des kleinen Mädchens hatten sich so stark geweitet, dass ihre Augen aussahen wie schwarze Löcher.
Ihr Gesicht war verschmiert mit Dreck und Blut. Auf ihrer Stirn wölbte sich eine Beule so groß wie eine halbe Pflaume. Ihre Haut war weiß. Ihre linke Wange war aufgerissen.
Doch sie war dort. In diesem Raum. Lebendig.
Auf dem Boden, ihr gegenüber, saß Jakab.
Vollkommen reglos, mit dem Rücken zu Hannah, in genau der gleichen Haltung wie Leah. Er trug Cordhosen, Stiefel und eine alte Army-Jacke. Hannah musste nur zwei Schritte gehen, um in Reichweite des Ungeheuers zu sein, des unbeschreiblichen Schreckens, der Generationen ihrer Familie verfolgt und ihre Mitglieder ausgelöscht hatte.
Ihren Ehemann. Ihre Mutter und ihren Vater. Den Großvater, dem sie nie begegnet war. Erna Novák, kaum mehr als ein Name in einem uralten Tagebuch, doch eine Frau, die gelebt und geliebt und gefürchtet und getrauert hatte und die gestorben war. Alle tot. Alle, wegen dieser Kreatur hier vor ihr, dieser lauernden Bestie.
Sie starrte auf Jakabs Hinterkopf – die gebräunte Haut seines Halses, sein dunkles Haar – und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, wie ihr Mund mit Speichel überflutet wurde. Ihr war übel von der Nähe zu dieser Kreatur, diesem Verursacher von so viel Tod und Schmerz. Irrsinn und Verderbtheit schienen in Wellen von ihm auszustrahlen. Sie fühlte sich hin- und hergeworfen.
Leah hob den Blick und sah zu ihrer Mutter. Die Augen des kleinen Mädchens blickten wild und verloren. Sein Mund stand offen.
Oh, bitte, lieber Gott, bin ich zu spät? Hat er sie bereits zerstört? Hat er ihren Verstand geraubt?
Sie packte das Skalpell fester. Gegen Jakab war es kaum mehr als ein Talisman, doch es war alles, was sie hatte. «Leah, steh auf. Komm weg von ihm.»
Ihre Tochter blieb sitzen, als hätte er sie mit einem Bann belegt, einem Zauberspruch.
«Leah.»
Endlich blinzelte Leah. «Oh, keine Angst, Mami, es ist alles gut. Er hat alles erklärt.»
Nie zuvor hatte Hannah einen Tonfall wie diesen in Leahs Stimme gehört. Er klang nach einer Mischung aus Staunen und Entsetzen, Verleugnung und Akzeptanz. «Liebling, bitte. Ich weiß nicht, was er gesagt hat, aber du weißt, wer er ist. Du weißt,
was
er ist. Was immer er dir erzählt hat, es ist eine Lüge. Glaub mir, Leah. Und jetzt steh auf. Komm weg hier.»
Leahs Gesicht straffte sich, als versuchte sie, mit mehr zu kommunizieren als mit bloßen Worten. «Mami, wir müssen keine Angst mehr haben.»
«Das ist richtig, Liebling. Wir müssen keine Angst mehr haben. Nicht vor ihm. Nie wieder. Und jetzt steh bitte auf.»
Ringsum klackten und knarrten die sich drehenden Räder der Mühle. Staub zitterte in der Luft. Die Bodendielen vibrierten. Leah streckte die Füße aus.
Als das kleine Mädchen sich erhob, kopierte Jakab seine Bewegungen. Mit geradezu übernatürlicher Eleganz entfaltete er seine Beine und drückte sich vom Boden ab – eine einzige fließende Bewegung wie von Dampf, der von einem Kessel aufsteigt.
Er drehte sich um, und Hannah spürte, wie ihr die Luft wegblieb, als hätte ihr jemand in den Magen getreten. Spürte, wie der Benzinkanister aus ihren plötzlich kraftlos gewordenen Fingern glitt. Hörte, wie er auf dem Boden aufschlug. Spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog, als sie nicht Jakab anstarrte, nein, nicht Jakab, sondern unfassbarer, unmöglicher, absurderweise Nate.
Nate. In Lebensgröße, leibhaftig.
Nate. Wiederauferstanden aus der leblosen Hülle, die sie in Llyn Gwyr begraben und zurückgelassen hatte.
Er lächelte, und um seine Augenwinkel herum entstanden kleine Fältchen, und als Hannah diese Fältchen sah, diesen Gesichtsausdruck, fühlte ihr Herz sich an, als müsste es in ihrer Brust explodieren. Ihre Knie gaben nach, und sie wankte. Schaffte es nur unter Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Das Skalpell, glatt vor Schweiß, rutschte ihr langsam aus den Fingern.
Es ist nicht Nate! Du weißt, dass es nicht Nate ist!
Der Benzinkanister war auf der Seite gelandet. Benzin lief glucksend aus, benetzte die Bodendielen, bildete eine dunkle Lache.
«Han», sagte er. Es war Nates Stimme. Unverkennbar Nates Stimme. Sein Timbre, sein Akzent. Seine verspielte Aggressivität, seine
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