Der Bann (German Edition)
über den felsigen Vorsprung ragte. Der Schieber zur Steuerung der Wassermenge befand sich direkt unterhalb der Plattform und wurde von dort aus mit Hilfe eines Handrads über einen Schneckenantrieb betätigt.
Es gab nur einen einzigen Eingang, eine massive Eichentür mit Eisenbeschlägen auf der Hannah zugewandten Seite des Bauwerks. Sie stand offen. Die von ihrer Position aus sichtbaren Fenster waren – mit Ausnahme der Fledermausluke im obersten Stockwerk – allesamt geschlossen, und die Luke war zu weit oben, um als Fluchtmöglichkeit in Frage zu kommen. Jeder Versuch, durch die Fenster auf der anderen Seite zu flüchten, führte unweigerlich zu einem Sturz auf die felsigen Untiefen der Vézère, die gleich darunter vorbeilief.
Mit brennenden Lungen und schmerzenden Muskeln blieb Hannah vor dem Geländer der Holzplattform stehen, um zu verschnaufen.
Er ist stärker als du. Schneller als du. Schlauer als du. Du musst ihn überraschen, ihn irgendwie aus dem Gleichgewicht bringen. Er wird jetzt noch nicht mit dir rechnen. Nicht an dich denken – nicht mit Leah bei sich.
Hannah starrte zur Tür, in die Dunkelheit dahinter. Sie spürte, wie sich ihr Herz in der Brust zusammenzog und dehnte wie eine Faust. Hinter ihr rauschte das Wasser über die Stufen des Wehrs. Sie kauerte nieder und schraubte den Deckel des Benzinkanisters ab.
Sie hatte immer noch keinen Plan. Seit sie die Besitzerin von Le Moulin Bellerose war, hatte sie die Mühle stets irgendwie als beunruhigend empfunden. Die abgeschiedene und exponierte Lage auf dem Felsen im Fluss verlieh dem Bauwerk eine düstere, schwermütige Aura. Heute jedoch strahlte es Bosheit aus.
Bring ihn aus dem Gleichgewicht. Tu etwas, womit er nicht rechnet. Verschaff dir jeden nur erdenklichen Vorteil.
Sie packte das Handrad des Schiebers und drehte. Nichts. Sie setzte all ihre Kraft ein, stemmte sich dagegen, sah, wie sich die Haut über ihren Knöcheln weiß verfärbte.
Das Rad rutschte zwei, drei Zentimeter durch. Dann packte es und hielt. Wieder stemmte sie sich dagegen, spürte den Rost auf den Zähnen des Getriebes. Dann, ganz plötzlich, hatte sie den Widerstand überwunden, und das Rad drehte sich in ihren Händen.
Die Stahlplatte des Schiebers hob sich langsam. Wasser strömte darunter hindurch, zuerst ein Rinnsal, dann ein Sturzbach, schließlich eine wilde, schäumende Flut.
Das Mühlrad ächzte. Für einen Moment glaubte Hannah, der Druck des Wassers könnte es abreißen, könnte die komplette Wand einreißen und mitsamt dem Rest des Bauwerks über den Vorsprung in den Fluss spülen, doch dann begann es sich zu drehen. Allmählich wurde es schneller und schneller und schleuderte weiße Gischt in die Luft, als die Schaufeln durch das schäumende Wasser getrieben wurden. Hannah hörte, wie im Innern der Mühle Zahnräder in Gang gesetzt wurden, als die alte Maschine aus ihrem Schlaf erwachte.
Hannah nahm den Benzinkanister auf. Zog das Skalpell aus der Hosentasche. Starrte auf die Klinge.
Er wird dich töten. Du weißt, dass er dich töten wird.
Das große Rad drehte sich. Wasser schäumte und kochte und rauschte. Die Plattform unter ihr vibrierte von der Kraft, die Hannah entfesselt hatte.
Sie ging zu der schweren Eichentür, atmete ein letztes Mal tief durch und schlüpfte nach drinnen.
Kapitel 28
Region Aquitaine, Frankreich
Heute
S ie trat aus dem freundlichen Herbstlicht in stickige, süßliche Dunkelheit. Die Sonne hatte die Luft in der Mühle aufgeheizt, und sie war schwer vom Geruch nach Staub und Holz und verrottenden Säcken, durchsetzt mit etwas Fauligem. Allem Anschein nach war kürzlich ein Tier hereingekrochen, um hier zu sterben.
Die Fenster waren schmutzverkrustet und ließen kaum Sonnenlicht durch. Zu Hannahs Linken stach die Achse des Wasserrads durch ein Loch in der Wand. Auf der Achse saß ein riesiges Stirnrad, das ein senkrecht dazu stehendes Kegelzahnrad antrieb. Auf diese Weise wurde die horizontale Bewegung des Mühlrades in eine vertikale umgewandelt. Eine Zahnradübersetzung bewegte einen zweiten Schaft, der durch die Decke in den Mahlraum ein Stockwerk höher führte.
Die Maschinerie schüttelte sich und rappelte und klapperte und klopfte. Die Vibrationen rührten einen feinen Nebel aus Mehlstaub auf.
Langsam gewöhnten sich Hannahs Augen an das Halbdunkel. Sie blickte sich um. In einer Ecke stand eine Ansammlung rostiger landwirtschaftlicher Werkzeuge. In einer anderen war Feuerholz gestapelt. Unter einem Fenster
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