Der Bastard und die Lady
plötzlich auftaucht.“
„Verstehe“, sagte Chelsea und senkte den Blick auf ihren Teller, denn sie verstand überhaupt nichts. War dem Mann klar, was er da sagte? Seine Mutter, die Geliebte des Marquess, wäre am Boden zerstört, weil die Frau ihres Liebhabers tot war? Merkwürdig war ein zu schwaches Wort für die Bemerkung und auch für die Vorstellung, dass die Blackthorn-Bastarde sich zum Begräbnis der Frau ihres Vaters einfinden würden. „Sie … ich meine, Ihre Mutter und die Marchioness, sie waren befreundet?“
Beau lachte, und Chelsea wurde bewusst, dass er zu wenig lachte, und wenn, dann über die seltsamsten Dinge. „Ich sollte es Ihnen wohl näher erklären.“
Sie legte die Gabel weg, denn sie mochte sowieso nichts mehr essen. Ihr Appetit war völlig verflogen. „Ja, das sollten Sie.“
Er erhob sich. „Wir nehmen meine Reisekutsche, die gerade von ihrer abgebrochenen Fahrt nach Dover zurück ist. Unsere Pferde habe ich schon vorausgeschickt. Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn wir uns in fünf Minuten auf den Weg machen könnten. Die Geschichte erzähle ich Ihnen dann unterwegs.“
„Dahinter steckt also eine Geschichte? Dachte ich’s mir“, sagte Chelsea und stand ebenfalls auf. „Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon sie handeln könnte.“
„Grämen Sie sich nicht, so geht es den meisten.“
Zehn Minuten später wurde die Dämmerungsstille von Mayfair unverhofft durch eine schockierte Frauenstimme zerrissen, die aus der Reisekutsche drang. Die herabgelassenen Lederblenden verbarg die Reisenden im Dunkeln.
„ Was ist sie?“
„Wie beruhigend, zu wissen, dass Sie begriffen haben, warum unsere Abreise in aller Heimlichkeit vonstatten gehen muss“, bemerkte Beau gedehnt vom Sitz gegenüber.
Chelsea schloss die Augen und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel. Und zählte bis zehn, tatsächlich bis zehn, denn es lag auf der Hand, dass der Mann unaufgefordert nicht weitersprechen würde.
Sie tat einen tiefen, hoffentlich beruhigenden Atemzug und rang um Fassung. Es fiel ihr nicht leicht. „Gut, jetzt geht es wieder. Aber Sie müssen doch zugeben, dass ich allen Grund habe, schockiert zu sein. Die Frau Ihres Vaters war die Schwester Ihrer Mutter. Die Frau Ihres Vaters ist Ihre Tante?“ Sie lehnte sich in die Polster zurück. „Nein, tut mir leid. Ich kann es immer noch nicht begreifen.“
„Wahrscheinlich, weil Sie meine Familie nicht kennen. Uns erscheint das alles völlig logisch.“
„Logisch“, wiederholte Chelsea kopfschüttelnd. Diesen Francis Flotley wollte sie ganz sicher nicht heiraten, aber zog sie allen Ernstes in Betracht, einen Mann zu ehelichen, der eine derartig bizarre Situation als logisch bezeichnete? Das Kloster erschien ihr mehr und mehr als praktikable Lösung für beide Probleme, natürlich nur, bis Thomas wieder zu Verstand gekommen war. „Ich verstehe nicht recht, was an einer solchen Regelung logisch sein soll. Oder angenehm für die Beteiligten. Hier die Gattin, dort die Geliebte, der Nachwuchs läuft ganz selbstverständlich auf dem Besitz herum – so war es doch sicher? Ein derartiges Zivilisationsniveau halte ich persönlich kaum für erstrebenswert.“
Der Kutscher klopfte drei Mal aufs Dach und ließ den Pferden sogleich die Zügel schießen, ein Zeichen, dass sie das Londoner Stadtgebiet verlassen hatten. Doch es geschah so abrupt, dass Beau, der wie ein aufsässiger Schuljunge auf seinem Sitz gelümmelt hatte, plötzlich nach vorn geschleudert wurde und beinahe auf Chelseas Schoß landete. Er rettete sich davor, indem er sich mit den Händen zu beiden Seiten von ihr abstützte, stoppte die Vorwärtsbewegung jedoch erst, als sie sich in der Dunkelheit nahezu Nase an Nase befanden.
„Verzeihung“, sagte er. „Ich bin gewöhnlich nicht so tollpatschig.“
Chelsea versuchte zu sprechen, ohne zu atmen. „Ach, nein? Sagen Sie, wie tollpatschig sind Sie denn … gewöhnlich?“
„Meinem Ruf zufolge bin ich überhaupt nicht tollpatschig. Ich werde vielmehr in mancherlei Hinsicht als ziemlich versiert beurteilt.“
Chelsea verdrehte die Augen angesichts dieses himmelschreienden Unsinns, wenngleich ihr Pulsschlag sich dramatisch beschleunigte. „Jetzt soll ich wohl tief beeindruckt sein, da ich weiß, mein Gatte in spe ist … nun ja, was immer Sie andeuten wollten. Tollpatschig andeuten wollten, wohlgemerkt.“
Er stieß sich ein wenig ab und setzte sich in Fahrtrichtung neben Chelsea. „Kein Wunder,
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