Der Bauch von Paris - 3
Erscheinung möglichst genau, möglichst »wissenschaftlich exakt« erfassen, folglich isoliert er sie wie ein Experimentator aus dem Gesamtzusammenhang. Der Künstler aber kann dieses Zusammenhanges nicht entraten und muß ihn in der technischen Konstruktion des Werkes wiederherstellen.
So wird auch die eigentliche, an Interesse weit hinter den Sachbeschreibungen zurückstehende Handlung, die im Grunde in drei verschiedene Episoden, den Kriminalroman um Florent, die Rivalität der beiden Frauen, aus der Zola der ursprünglichen Konzeption nach sogar den dramatischen Knoten für sein ganzes Werk gewinnen wollte, und die Idylle zwischen Cadine und Marjolin zerfällt, letztlich dadurch zusammengehalten, daß sie sich um ein festes räumliches Zentrum, um die Hallen, gruppiert, die ihrerseits dadurch zum eigentlichen Handlungskern werden. Zola versucht deshalb auch, die wirkliche, gesellschaftliche Bedeutung seines Romanes weniger in dem menschlichen Geschehen zu erfassen, als durch das Symbol der Hallen, des Bauches zu deuten und für den Leser intuitiv erlebbar zu machen. Damit jedoch fixiert er eine Erscheinungsform der ergriffenen sozialen Gegebenheiten zunächst nur in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit. Konsequent auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehend, weitet er das Zentralsymbol auf alle im Roman dargestellten Erscheinungen aus. Deshalb kann er sich auch bei der Beschreibung der Hallen selbst nicht genugtun. Sie sind riesenhaft, eine jedes normale Maß übersteigende moderne Maschine mit schwerem Atem – die Bilder und Vergleiche, deren sich Zola hier bedient, finden sich fast wörtlich zum Teil bei der Schilderung des Bergwerks Voreux im »Germinal« wieder –, sie sind ein gigantischer metallener Bauch, in dem sich die Nahrung staut und ansteigt wie das Meer bei Flut. Sie überschwemmen alles, ertränken die umgebenden Stadtviertel fast in ihren Abfällen und Dünsten und reißen den armen, von der Teufelsinsel entwichenen, halbverhungerten Florent unwiderstehlich in ihren Strudel, daß er hilflos zu versinken fürchtet und um Gnade fleht.
Am Spätnachmittag und am Abend aber, wenn das Leben in den Hallen verstummt ist, gleichen sie einem riesigen Beinhaus, aus dem ein Geruch nach Leichen und Verwesung aufsteigt. Doch in heißen Sommernächten, wenn die Zinkdächer noch von der Glut des Tages dampfen, nehmen sie das Aussehen eines riesigen Ungeheuers an, das sich überfressen hat und nun, im Schatten kauernd, nackt und schweißtriefend seinen geblähten Bauch erleichtert.
Zola sucht aber nicht nur durch eine Fülle von Bildern und Vergleichen den Sachkomplex zum Leben zu erwecken, er setzt auch alle künstlerischen Mittel ein, um das Bauwerk als solches immer wieder von allen Seiten und bei den verschiedensten Beleuchtungseffekten zu beschreiben, von der Straße aus gesehen, vom Fenster Florents herab betrachtet, von den Dächern der einzelnen Hallen selbst aus beobachtet und in den Geflügelkellern in seinen Untergründen aufgespürt, flimmernd im gleißenden Sonnenlicht, verschwimmend im Nebel der Morgendämmerung, aufflammend wie ein Feuerbrand in der rötlichen Abendglut (das Bild vom »Feuer«, von »Flammen« gehört überhaupt zum Grundbestand der Sprache Zolas, die gleichsam ständig übersteigert in einem Rausch apokalyptischer Metaphern schwelgt). Oft dienen die Menschen, wie Florent und Claude auf ihrem Spaziergang im ersten Kapitel, Zola nur dazu, den sie begleitenden Leser mit ihren Augen die Hallen schauen zu lassen, verlieren bei diesem Wuchern der Sachbeschreibung ihr eigentliches Interesse, werden hin und her bewegt, nicht weil es ihr Leben im Roman, ihr Schicksal so unbedingt erfordert, sondern weil der Autor ihrer als Vorwand, als Medien bedarf. Und umgekehrt setzt sich immer wieder dieses Degradieren der Menschen in eine Überspannung der Schauplatz Schilderung, ein Poetisieren der Dinge um, werden Zola die Gegenstände gleichsam unter der Hand lebendig, weil sie das Leben der wirklichen Menschen in sich eingesogen haben.
Schon im Symboltitel fließen Sache und Mensch zusammen: die Hallen sind nicht wie der Bauch von Paris, sie sind tatsächlich der Bauch von Paris. Und dieses Wort »le ventre« wird zur Beschwörungsformel, in die sehr vieles eingeht: das ursprüngliche Bild vom Essen, Sattsein, Verdauen, aber zugleich auch die Vorstellung der von Nahrung aufgeblähten Bäuche, der dicken Bäuche schwangerer Frauen. Jedesmal, wenn das Wort im einen oder anderen Sinne, in
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