Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Bauch von Paris - 3

Der Bauch von Paris - 3

Titel: Der Bauch von Paris - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
stützte.
    »Sie sind müde?«
    »Ja, sehr müde«, murmelte er.
    Da schlug sie einen barschen und gleichsam ungehaltenen Ton an, schubste ihn und sagte:
    »Los! Schnell! Klettern Sie auf meinen Wagen! Sie bringen uns ja bloß um unsere Zeit! Ich fahre zu den Markthallen, ich lade Sie mit meinem Gemüse ab.« Und als er ablehnen wollte, schob sie ihn mit ihren starken Armen förmlich hoch, warf ihn auf die Möhren und Kohlrüben und rief ganz ärgerlich: »Machen Sie keine Fisimatenten! Mir reicht’s nun … Wenn ich Ihnen doch sage, daß ich zu den Markthallen fahre! Schlafen Sie ruhig, ich wecke Sie schon!«
    Sie stieg wieder auf, lehnte sich an das schrägstehende Brett und nahm die Zügel Balthasars in die Hand, der sich wieder in Marsch setzte, einduselte und mit den Ohren spielte. Die anderen Wagen folgten; der Zug nahm seinen langsamen Trott durch die Dunkelheit wieder auf, und von neuem schlug das Rumpeln der Räder gegen die eingeschlafenen Häuserfronten. Die Fuhrleute begannen unter ihren Mänteln wieder zu dösen. Der Fuhrmann, der Frau François angeredet hatte, brummte, als er sich ausstreckte: »Teufel! Wenn man noch die Besoffenen auflesen soll! Ihr habt Ausdauer, Mutter François …«
    Die Wagen rollten, die Pferde gingen ganz von allein mit hängenden Köpfen.
    Der Mann, den Frau François eben aufgelesen hatte, lag auf dem Bauch, die langen Beine in dem Haufen Kohlrüben verloren, die den Hinterteil des Wagens ausfüllten. Sein Gesicht versank in den Möhren, deren Bündel sich türmten und aufgingen; und während er aus Furcht, durch einen Stoß hinuntergeschleudert zu werden, mit seinen ausgebreiteten, abgezehrten Armen die riesige Gemüseladung umklammerte, sah er die beiden endlosen Reihen der Gaslaternen vor sich, die näher kamen und ganz dort oben in einem Gewimmel anderer Lichter verschwammen. Ein weiter weißer Dunst wallte am Horizont und hüllte das schlafende Paris in den leuchtenden Brodem all dieser Flammen.
    »Ich bin aus Nanterre und heiße Madame François«, begann die Gemüsebäuerin nach einer Weile. »Seitdem ich meinen armen Mann verloren habe, fahre ich jeden Morgen zu den Markthallen. Ach, gehen Sie mir, das ist schwer! – Und Sie?«
    »Ich heiße Florent, ich komme von weit her …«, antwortete der Unbekannte verlegen. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich bin so erschöpft, daß es mir schwerfällt zu sprechen.« Er wollte nicht reden.
    Sie schwieg also und ließ die Zügel ein wenig lockerer über Balthasars Kruppe hängen, der seinen Weg wußte und jeden Pflasterstein kannte.
    Die Augen auf den unermeßlichen Lichtschein von Paris geheftet, dachte Florent an die Geschichte, die er verschwieg. Aus Cayenne1 entflohen, wohin ihn die Dezemberereignisse2 geworfen hatten, war er zwei Jahre in HolländischGuayana herumgeirrt in dem irrsinnigen Verlangen nach Heimkehr und in der Furcht vor der kaiserlichen Polizei, und nun lag endlich die geliebte, große Stadt, nach der er sich so gesehnt, nach der er so verlangt hatte, vor ihm. Hier würde er sich verbergen, hier würde er sein friedliches Leben von einst führen. Die Polizei würde nichts davon erfahren. Übrigens mußte er für sie drüben gestorben sein. Und er rief sich seine Ankunft in Le Havre ins Gedächtnis zurück, bei der er nur noch fünfzehn Francs in einem Zipfel seines Taschentuchs gefunden hatte. Bis Rouen konnte er einen Wagen nehmen. Von dort ging er zu Fuß weiter, weil ihm kaum noch dreißig Sous3 blieben. In Vernon aber kaufte er sich für seine letzten zwei Sous Brot. An das, was danach kam, konnte er sich nicht mehr erinnern. Er glaubte mehrere Stunden in einem Graben geschlafen zu haben. Einem Gendarmen hatte er die Papiere, die er sich beschafft hatte, zeigen müssen. Das alles tanzte in seinem Kopf. Ohne etwas zu essen, war er von Vernon bis hierher gekommen unter plötzlichen Wut und Verzweiflungsanfällen, die ihn dazu trieben, die Blätter der Hecken zu kauen, an denen er entlangkam; und er ging weiter, von Krämpfen und Schmerzen gepackt, den Bauch zusammengekrümmt, den Blick getrübt, die Füße, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie angezogen von jener Vision von Paris, das weit, ganz weit hinter dem Horizont, ihn rief, ihn erwartete. Als er in Courbevoie anlangte, war es stockfinstere Nacht. Paris, das einem Stück bestirnten Himmels glich, der auf eine Ecke der schwarzen Erde herabgefallen war, kam ihm streng vor und gleichsam erzürnt über seine Rückkehr. Da befiel ihn Schwäche,

Weitere Kostenlose Bücher