Der Bauch von Paris - 3
bringen. Am übernächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Forts Bicêtre7. Von diesem Tage an litt er Hunger; in der Kasematte hungerte er, und seitdem hatte ihn der Hunger nicht mehr verlassen. Etwa hundert waren in diesem luftlosen Keller zusammengepfercht und verschlangen die paar Bissen, die man ihnen wie eingesperrten Tieren zuwarf. Als er vor einen Untersuchungsrichter kam ohne irgendwelche Zeugen, ohne Verteidiger, wurde er beschuldigt, einem Geheimbund anzugehören, und als er schwor, daß das nicht stimme, holte der Richter den Zettel mit der Aufschrift: »Festgenommen mit blutigen Händen. Sehr gefährlich!« aus seinen Akten hervor. Das genügte. Er wurde zur Deportation verurteilt. Nach sechs Wochen weckte ihn im Januar eines Nachts ein Gefangenenwärter und brachte ihn zu einigen vierhundert anderen Gefangenen in einen Hof. Zwischen zwei Reihen Gendarmen mit geladenem Gewehr machte sich eine Stunde danach dieser erste Zug mit gefesselten Händen auf den Weg zu den Gefangenenschiffen und in die Verbannung. Sie zogen über die Pont d’Austerlitz, folgten der Reihe der Boulevards und kamen zum Gare du Havre. Es war eine fröhliche Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants am Boulevard leuchteten. In der Höhe der Rue Vivienne, an der Stelle, wo Florent noch immer die unbekannte Tote sah, deren Bild er mit sich trug, gewahrte er in einer großen Kalesche maskierte Frauen mit nackten Schultern und lachenden Stimmen, die ungehalten waren, daß sie nicht vorbei konnten, und beim Anblick »dieser Sträflinge, die kein Ende mehr nahmen«, angewidert taten. Von Paris bis Le Havre erhielten die Gefangenen nicht einen Bissen Brot und nicht ein Glas Wasser. Man hatte vergessen, vor dem Abmarsch Verpflegung an sie auszugeben. Erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Laderaum der Fregatte »Le Canada« zusammengepfercht hatte, bekamen sie etwas zu essen.
Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er durchforschte seine Erinnerungen und konnte sich nicht entsinnen, eine Stunde satt gewesen zu sein. Er war dürr geworden, der Magen war zusammengeschrumpft, die Haut klebte auf den Knochen. Und er fand Paris wieder, feist, hochmütig, überquellend von Nahrung in der Tiefe der Finsternis; auf einem Bett von Gemüse hielt er seinen Einzug. Er wälzte sich gleichsam in einer unbekannten Welt von Fraß, die er rings um sich wuchern fühlte und die ihn beunruhigte. Die glückliche Karnevalsnacht hatte also sieben Jahre lang fortgedauert. Wieder sah er die leuchtenden Fenster der Boulevards, die lachenden Frauen, die gefräßige Stadt, die er damals in jener fernen Januarnacht verlassen hatte; und es schien ihm, als sei das alles noch gewachsen, als sei es aufgeblüht in dieser Riesenhaftigkeit der Markthallen, deren mächtigen, noch vom Unverdauten des Vortages stickigen Atem er zu spüren begann.
Mutter Chantemesse hatte sich entschlossen, zwölf Bund Rüben zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf dem Bauch, wodurch ihre breite Taille noch umfangreicher wurde; und sie blieb noch da, unausgesetzt schwatzend mit ihrer schleppenden Stimme. Als sie gegangen war, setzte sich Frau François wieder zu Florent und erzählte:
»Die arme Mutter Chantemesse, mindestens zweiundsiebzig ist sie. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon bei meinem Vater ihre Kohlrüben kaufte. Und keinen Verwandten hat sie um sich, niemand außer einem Weibsstück, das sie, ich weiß nicht wo, aufgelesen hat und von dem sie bis aufs Blut gequält wird … Schlägt sich kümmerlich durch, verkauft ein bißchen und verdient noch ihre vierzig Sous den Tag … Ich könnte nicht in diesem verfluchten Paris von morgens bis abends auf einem Bürgersteig sitzen. Wenn man hier wenigstens Verwandte hätte!« Und da Florent nichts sagte, fragte sie ihn: »Sie haben Ihre Familie in Paris, nicht wahr?«
Er schien nicht zu hören. Sein Mißtrauen kehrte wieder. Er hatte den Kopf voll von Geschichten über die Polizei, über Spitzel, die an jeder Straßenecke lauerten, über Weiber, die armen Teufeln Geheimnisse entlockten und für Geld preisgaben. Sie saß ganz dicht bei ihm und wirkte mit ihrem großen ruhigen Gesicht, das ein schwarzgelbes Seidentuch über der Stirn straff umspannte, durchaus rechtschaffen auf ihn. Sie mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war ein bißchen stark, aber schön infolge ihres Lebens in der frischen Luft; ihre Robustheit wurde durch die wohlwollende Zärtlichkeit ihrer schwarzen
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