Der Baum des Lebens
ausgeführt hatten.
Der Oberpriester von Abydos verneigte sich vor dem König.
»Wie geht es der Akazie?«, wollte der Pharao wissen.
»Ihr Zustand ist unverändert, Majestät.«
»Ich komme, um einen Tempel zu bauen, eine ewige Ruhestätte und eine Stadt«, verkündete Sesostris. »Im Süden des Geländes wird die Siedlung Uahsut errichtet, ›der Ausdauernde Ort‹. Sie wird täglich mit frischem Fleisch, Fisch und Gemüse versorgt. Metzger und Köche werden dort wohnen, und es soll den Priestern und Handwerkern an nichts fehlen.«
»Wie stellt Ihr Euch unsere Aufgabe vor, Majestät?«
»Ich habe festgelegt, dass kein Ritualist aus Abydos an einen anderen Ort gebracht werden darf. Keiner von ihnen muss Feldarbeit verrichten, und keine Einrichtung hat das Recht, auch nur ein winziges Stück Land von Osiris zu nehmen. Zwei Arten von Priestern sind zugelassen: ständige und zeitweilige. Will eine Gruppe Zeitweiliger einer neuen Platz machen, muss sie ihre Aufgabe bestens erfüllt haben, sonst drohen ihr Strafen. Nun zähle ich die ständigen Priester auf: Da ist einmal der Kahle, der für die Durchführung der Riten im Hause Gottes verantwortlich ist; dann der Diener des ka, der die spirituelle Energie verehrt und erhält; der, der die Trankopfer über die Opferaltäre ergießt; der, der über die Unversehrtheit von Osiris’ Leichnam wacht; der, dessen Handeln geheim ist und der die Mysterien erkennt; die sieben Musikerinnen, die den göttlichen Geist erquicken sollen; und schließlich derjenige, der die goldene Palette trägt, auf der die Formeln der Erkenntnis verzeichnet sind. Dir vertraue ich sie an.«
Der König reichte dem alten Mann den kostbaren Gegenstand.
»Ich werde versuchen, mich Eures Vertrauens würdig zu erweisen, Majestät. Wann wollt Ihr die übrigen Würdenträger ernennen?«
»Wähle du sie aus den fähigsten Ritualisten aus. Aber ehe wir fortfahren können, muss ich wissen, ob uns der Geist des Ortes gewogen ist.«
Sesostris begab sich allein in die Wüste.
Trotz seiner wiederholt geäußerten Sicherheitsbedenken war es Sobek dem Beschützer nicht erlaubt, seinem Herrn zu folgen.
Seit Anbeginn der Zeit herrschte eine geheimnisvolle Gottheit über Abydos, der Gott Chenti-Imentiu mit dem Beinamen »der an der Spitze der Westlichen. * « Obwohl er aus der Welt der Schatten kam, durchquerte er doch das Reich der Lebenden, wenn sich die Pforten zum Unsichtbaren öffneten.
Ohne seine Zustimmung wäre das Unternehmen des Pharaos zum Scheitern verurteilt.
Genau vor der Stelle, an der das Sanktuar seines Tempels gebaut werden sollte, blieb Sesostris stehen. Hier konnte die Erde auf ganz eigene Weise in Zwiesprache mit dem Himmel treten.
Und die gesamte Natur verfiel in völliges Schweigen. Nicht ein Vogel oder auch nur ein Windhauch war zu hören.
Da tauchte er plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm auf: ein schwarzer Schakal, hoch aufgerichtet, mit einem enorm langen Schwanz und großen aufrechten Ohren.
Argwöhnisch beäugte er den Eindringling aus der Ferne. Aber Sesostris verstand sehr schnell, was er von ihm wollte. Die Verkörperung von Chenti-Imentiu forderte ihn dazu auf, seine Wünsche vorzutragen.
»Ich muss den Verfall der Akazie aufhalten«, erklärte der Herrscher. »Zu diesem Zweck will ich einen Tempel erbauen lassen, in dem jeden Tag ein Ritual gefeiert werden soll, das diesem Ort seine Lebenskraft bewahrt. Doch das wäre alles vergebene Mühe ohne den Bau einer ewigen Ruhestätte, an der sich die Mysterien von Tod und Auferstehung vollziehen. Die Handwerker sollen diese Bauten nicht zu meinem Ruhm errichten, sondern damit Osiris der Schlussstein der ägyptischen Kultur bleibt. Lies die Pläne zu diesem Bauwerk in meinem Herzen und erteile ihnen mit dem Siegel deiner Macht deine Zustimmung. Ohne sie können sie nicht verwirklicht werden.«
Der Schakal setzte sich auf die Hinterpfoten, hob den Kopf zur Sonne und stimmte einen derart lauten und ergreifenden Gesang an, dass er damit die Seelen aller Lebewesen auf dem Großen Land Abydos rührte.
Der Prophet und sein Gefolge hatten nach einer Reihe steiniger Hügel mit schroffen Spitzen soeben eine weitere Hochebene aus Kalksandstein überquert. Hin und wieder trafen sie unverhofft auf eine kleine Oase, in der sie sich dann einige Stunden ausruhten, ehe sie wieder in die Wüste aufbrachen.
Die Männer waren ihrem Anführer ausgeliefert, der weder Erschöpfung noch Zweifel zu kennen schien, und sie konnten sich kaum
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