Der Baum des Lebens
noch auf den Beinen halten. Sie fragten sich nicht einmal mehr, wie lange sie wohl noch in diesem Glutofen überleben würden.
»Wir finden sie nicht«, sagte Shab der Krumme. »Wir sollten besser umkehren, Herr.«
»Habe ich dich schon einmal enttäuscht?«
»Nein, noch nie, aber wie soll ich an diese Legende glauben?«
»Hast du schon jemals die zerfetzten Kadaver gesehen, die die Ungeheuer der Wüste zurückgelassen haben?«
»Nein.«
»Aber ich. Und seit diesem Tag weiß ich, dass diese Kreaturen die Kraft besitzen, die wir brauchen. Mit ihr sind wir unbesiegbar.«
»Wäre es nicht besser, wir würden eine schlagkräftige bewaffnete Truppe zusammenstellen?«
»Wenn auch jede andere Armee besiegbar ist, meine wird es nicht sein.«
»Ich will Euch nicht beleidigen, aber im Augenblick sehe ich da nur ein Häufchen Elend!«
»Glaubst du etwa, dieses Häufchen Elend wäre noch am Leben, wenn es nicht meine Worte gehört hätte?«
»Zugegeben… Dass sie sich überhaupt noch auf den Beinen halten können, ist wirklich unglaublich!«
Es waren nur etwa zwanzig Männer, die zugesagt hatten, dem Propheten zu folgen, weil er ihnen nach einigen harten Auseinandersetzungen Reichtum und Wohlstand in Aussicht gestellt hatte. Allesamt Ersttäter oder Gewohnheitsverbrecher, waren sie froh, so ihrer Strafe zu entgehen.
Jedes Mal, wenn einer von ihnen so weit war, ihm abzuschwören oder sich gar gegen ihn aufzulehnen, trat der Prophet ganz nah zu ihm und stärkte ihn mit seinem Blick. Einige ruhige, wie hypnotisierend wirkende Worte brachten den Abtrünnigen dann wieder auf den rechten Weg. Einen Weg, der allerdings immer tiefer mitten in eine endlos große Wüste führte.
Als die Nacht hereinbrach, glaubte der Mann, der vorausging, den sedja entdeckt zu haben, ein Ungeheuer mit einem Schlangenkopf auf dem Körper eines Löwen.
Er lief auf das Tier zu und wollte ihm mit einem Stockhieb den Schädel zerschmettern. Aber der Schlangenhals wich ihm aus, und die Krallen des Löwen gruben sich in die Brust des Angreifers.
»Es gibt sie also doch«, murmelte Shab entsetzt.
Und dann kamen seref, mit dem Körper eines Löwen und einem Falkenkopf, und abu, ein gewaltiger Widder mit einem Rhinozeroshorn auf der Schnauze.
Zwei der Männer versuchten zu fliehen, aber die Ungeheuer fingen sie ein und töteten sie.
Schließlich erschien sha, das Tier des Gottes Seth, in einem rötlichen Lichtschein, der die Wüste erglühen ließ – ein Vierbeiner, dessen Kopf so ähnlich wie der eines Okapi aussah. Auch wenn dieses Monstrum nicht so gefährlich wirkte wie die drei anderen, versteinerten die Überlebenden beim Anblick seiner rot glühenden Augen.
»Was sollen wir nur machen?«, fragte Shab, der vor Angst mit den Zähnen klapperte.
Der Prophet sah ihn verständnislos an. »Alle Gottheiten faszinieren mich, die bösen genauso wie die guten«, erklärte er. »Das helle Tageslicht und die finsteren Mächte der Dunkelheit wohnen in meiner Seele. Sie sprechen ausschließlich zu mir, und ich bin der Einzige, der ihre Sprache versteht. Wer mir den Gehorsam verweigert, wird vernichtet, wer mir gehorcht, wird reich belohnt. Aus all diesen vielen Mächten werde ich eine einzige machen, und ich allein werde sie weitergeben. Die ganze Erde wird sich unterwerfen, es wird nur mehr einen einzigen Glauben und einen einzigen Herrn geben.«
Nur Shab der Krumme hatte sich nicht in den Sand geworfen, um von den Raubtieren verschont zu werden. Doch was er nun sah, konnte er kaum glauben.
Der Prophet ging auf die drei Ungeheuer zu, strich ihnen langsam mit der Hand über Krallen, Schnabel und Horn und beschmierte sich mit dem Blut ihrer Opfer.
Dann riss er dem Tier des Seth seine glühenden Augen aus und legte sie auf seine.
Ein Sandsturm kam auf und zwang Shab, sich auf den Boden zu werfen. Ebenso kurz wie heftig, machte der Sturm bald einem eisigen Wind Platz.
Der Prophet saß jetzt auf einem Felsen.
Von den Ungeheuern war nichts mehr zu sehen.
»Herr… Das war doch nur ein Albtraum?«
»Natürlich, mein Freund. Solche Kreaturen gibt es nur in der Fantasie von Feiglingen.«
»Aber hier liegen ganz zerfetzte Leichen!«
»Sie wurden Opfer eines Raubtiers, das unsere Gegenwart rasend gemacht hat. Jetzt weiß ich, was ich wissen wollte, und wir werden nun unseren ersten Schlag ausführen.«
Shab hatte wohl ein Trugbild gesehen, wie es in der Wüste so häufig vorkommt. Aber warum waren die Augen des Propheten auf einmal
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