Der Baum des Lebens
Herrn verbirgt« hieß, die also Osiris verbarg.
Auf jedem Opfertisch stand ein Krug mit Milch. Tag für Tag wurde diese kostbare flüssige Gabe der Sterne von den Schöpfungskräften erneuert, die außerhalb der menschlichen Wahrnehmung wirkten.
Fünf der Tonkrüge, jene, die zu den letzten fünf Tagen des Jahres gehörten, die Isis und Osiris gewidmet sind, waren zerbrochen.
Jetzt wusste Sesostris, warum die kommende Schwemme ein großes Unglück werden musste. Jemand hatte den heiligen Ort geschändet, die Energie konnte nicht mehr fließen.
Auf der Suche nach einem Hinweis, mit dem man den Schuldigen ausmachen könnte, entdeckte der König ein Stück Wolle. Den ägyptischen Priestern war Wolle strikt verboten, sie trugen ausschließlich Leinen. Wer auch immer hier gewesen war, kannte entweder die rituellen Gebräuche nicht, oder er nahm sie nicht ernst.
Flügelschläge störten die Stille. Ein Falke und ein Geier ließen sich auf der Spitze des Felsens nieder und beäugten den Eindringling.
»Ich bin Euer ergebener Diener. Zeigt mir, welchen Weg ich gehen muss.«
Der Falke flog auf, der Geier rührte sich nicht.
»Dank sei dir, göttliche Mutter. Was zu tun ist, wird getan.«
Sarenput traute seinen Augen nicht. Der Pharao war noch am Leben!
»Jetzt kenne ich die Wurzel des Übels«, erklärte Sesostris.
»Wart Ihr in der Lage, sie auszureißen, Majestät?«
»Wie kannst du nur glauben, die Göttin hätte den Pharao im Stich gelassen? Du musst weitsichtiger denken, Sarenput, und auf ihre Stimme hören.«
Zuerst war es nur ein heller Punkt am Horizont, wie ein Trugbild. Doch der Punkt wurde immer größer und nahm schließlich die Umrisse einer Barke an. Und dieser zerbrechliche Nachen näherte sich langsam der heiligen Insel.
An Bord waren ein erschöpfter Ruderer und eine unerhört anmutige junge Frau. Selbst Sarenput, der unvergleichlich schöne Nubierinnen als Geliebte hatte, war zutiefst beeindruckt.
Woher mochte diese vollkommene Gestalt mit dem heiteren Gesicht und dem strahlenden Blick kommen, der einem die Seele erfreute?
Die junge Priesterin trug ein langes weißes Kleid, das von einem roten Gürtel mit gelben, grünen und roten Borten gehalten wurde. Eine lange Perücke ließ ihre Ohren frei. An den Handgelenken trug sie Armreifen aus Gold und Lapislazuli, an einer Halskette einen goldgefassten Skarabäus aus Karneol.
»Wer ist sie?«, fragte Sarenput wie gebannt.
»Eine Priesterin aus Abydos, deren Hilfe ich unbedingt brauche«, erklärte der Monarch. »Bei einer Zeremonie, mit der wir den Segen der Götter für eine gute Nilschwemme angerufen haben, hat sie den Südwind dargestellt.«
Im Heck des Bootes warteten eine tragbare Harfe, eine versiegelte Papyrusrolle und eine kleine Statue von Hapi, dem androgynen Flussgott, auf ihren Einsatz.
»Bereitet die Opfergaben vor«, befahl Sesostris den beiden Gaufürsten, ehe er erneut in dem Pflanzenlabyrinth verschwand, diesmal in Begleitung der Priesterin.
Vor der Höhle des Nils blieben sie stehen. Oben auf dem Felsen saßen der Falke und der Geier und beobachteten sie.
»Isis hat Osiris wiedergefunden«, sagte der Pharao. »Das letzte Hindernis ist beseitigt, die Früchte des Perseastrauchs sind reif, die Kanäle dürfen geöffnet und mit neuem Wasser gefüllt werden. Mögen sich die Nilquellen großzügig zeigen, möge der Falke die königliche Einrichtung beschützen und der Geier die Mutter sein, die den Tod besiegt.«
Nun spielte die junge Frau die viersaitige Harfe. Zwischen Gehäuse und Bogen war ein Stück Sykomorenholz in der Form des magischen Knotens der Isis angebracht. Die Göttin Maat zierte den oberen Teil und wachte so darüber, dass dieses so schwierig zu spielende Instrument besänftigende Harmonie verströmte.
»Möge der Pharao das Brot der Göttin Maat essen und ihren Tau trinken«, sang die Priesterin hell und langsam.
Da bewegte sich der Boden in der Höhle.
Eine riesige grüne Schlange erschien, wand sich zu einem Kreis und verschlang ihren eigenen Schwanz.
»Der Jahreskreis ist zu Ende und vollbracht«, sagte der Herrscher, »nun schenkt er einem neuen Jahr das Leben. Indem sie sich selbst verschlingt, dient die Zeit der Ewigkeit. Möge die Schlange der Nilquellen die Amme der Zwei Länder sein.«
Falke und Geier erhoben sich in die Lüfte und zogen große, beschützende Kreise um den Pharao und die Priesterin, die das Siegel des Papyrus brach, ihn entrollte und die Höhle betrat.
Dann tauchte sie
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